Deutschland hat gar nicht so schlecht gewählt, sagt der erste grüne Vizekanzler des Landes, Joschka Fischer, im Gastkommentar. Der Stillstand ist passé, jetzt ist Aufbruch angesagt.

Wäre sie zur Wahl gestanden, wäre sie wiedergewählt worden. Noch-Kanzlerin Angela Merkel.
Foto: AFP / Stefanie Loos

Deutschland hat gewählt, und damit werden die sechzehn Jahre der scheinbar ewigen Bundeskanzlerschaft von Angela Merkel endgültig Geschichte. Dies ist bisher die einzige Gewissheit, die der Wahlabend gebracht hat. Alles andere bleibt im Ungefähren, das es zu entschlüsseln gilt.

Die Deutschen sind, anders als ihre linksrheinischen Nachbarn, keine Revolutionäre. Erneut haben dies die letzten Bundestagswahlen bewiesen. Deutschland wird auch weiterhin aus der Mitte heraus regiert, was sich aufgrund seiner Geschichte, geopolitischen Lage in der Mitte Europas und seiner kritischen Größe fast schon als eine notwendige Konstante erweist, während die extremen Ränder links und rechts geschwächt wurden.

Ein Aufbruch

Stabilität und Kontinuität des politischen Systems sind bleibende und offensichtlich hoch angesehene Werte bei der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Deshalb hätten sie auch Angela Merkel, so sie denn ein weiteres Mal angetreten wäre, wiedergewählt.

Zugleich war sich dieselbe Mehrheit aber der Tatsache bewusst, dass es mit Merkels Politik des "Auf-Sicht-Fahrens", des Abwartens und Zögerns und des völligen Verzichts auf jegliche strategische Vision für das Land und Europa nicht weitergehen konnte. Das Land brauchte einen Aufbruch, einen Neuanfang, und den hat es sich dann am vergangenen Sonntag auf fast schon schlitzohrige Weise auch gewählt, indem es sich vordergründig für Stabilität und Kontinuität entschieden hat.

Kein Umsturz

An der Oberfläche blieb scheinbar alles beim Alten. Der Kampf ums Kanzleramt, um die Führung der zukünftigen Bundesregierung also, wurde, wie immer, zwischen den beiden ehemals großen Volksparteien entschieden, die es heute aber nur noch gerade auf jeweils 25 Prozent der Stimmen bringen. Und der Vorsprung der Sozialdemokraten vor den Unionsparteien ist denkbar knapp ausgefallen – ganze 1,6 Prozent.

Die direkte Entthronung der beiden bisherigen Volksparteien SPD und CDU/CSU hätte allerdings zu sehr nach Umsturz gerochen und unterblieb deshalb. Eine Stimmabgabe, welche die Grünen zur stärksten Partei inklusive des dann erfolgenden Anspruchs auf das Kanzleramt gemacht hätte, unterblieb. Zumal ein ähnliches Aufbruchssignal auch auf weniger sichtbare, eindeutige und damit weitaus weniger dramatische Art zu erreichen war. Das Ergebnis, frei nach Berthold Brecht: "Die Großen sind groß nicht und klein nicht die Kleinen, es liegen begraben drei Kaiser in Prag …"

Neue Machtverhältnisse

Die eigentliche, für deutsche Verhältnisse fast schon eine kleine Revolution zu nennende Veränderung fand in dem durch die Schwäche der beiden früheren Volksparteien erzwungenen Übergang von den in Deutschland auf der Bundesebene bisher üblichen Zweierkoalitionen zu zukünftigen Dreierkoalitionen statt, was die Machtverhältnisse in einer zukünftigen Regierungskoalition völlig verändern wird.

Den beiden ehemals Großen bleibt zwar noch (theoretisch) die Fortsetzung einer gar nicht mehr so großen Koalition unter der Führung eines SPD-Kanzlers, aber das hieße gegenüber einer Dreierkoalition die Fortsetzung des Stillstands der vergangenen Jahre versus Aufbruch. Das kann man Deutschland und Europa allen Ernstes nicht wünschen.

"Die Ruhe und Selbstgenügsamkeit der Merkel-Jahrzehnte werden dahin sein, und diese neue Konstellation wird alles andere als einfach für die Beteiligten werden."

Die beiden kleineren Partner sind im Übrigen gar nicht mehr so klein. Wenn sich die beiden kleineren Koalitionsparteien – die Grünen bei fast 14,8 Prozent und die Liberalen bei 11,5 Prozent, macht zusammen 26,3 Prozent – trotz aller inhaltlichen Unterschiede in Sach-, Personal- und Machtfragen einig sind, dann wird es für die größere Partei sehr schwer werden. Auf den Kanzler kommt es dann, um einen erfolgreichen Wahlslogan der Unionsparteien aus der Vergangenheit zu paraphrasieren, nur noch sehr bedingt an.

Diese für Deutschland ungewöhnliche Konstellation dreier annähernd gleich großer Partner in einer Koalition auf Bundesebene könnte dann in der Tat zu einem fundamentalen Umbau des deutschen Parteiensystems und – wenn die Grünen und die Liberalen sich klug verhalten – zu einer neuen ökologischen, technologischen und sozialen Dynamik führen, die, eingebunden in eine aktivere Europapolitik, die Chancen des Alten Kontinents in dem neuen Wettbewerb der global zurückgekehrten Großmachtpolitik erheblich verbessert.

Ein Selfie der "kleinen" Koalitionsverhandler (von li.): FDP-Generalsekretär Volker Wissing, Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock, FDP-Chef Christian Lindner und Grünen-Bundesvorsitzender Robert Habeck.
Foto: APA / FDP / Instagram / Volker Wissing

Staatsklugkeit nach Merkel

Die Ruhe und Selbstgenügsamkeit der Merkel-Jahrzehnte werden dahin sein, und diese neue Konstellation wird alles andere als einfach für die Beteiligten werden. Erneuerung war jedoch niemals einfach, sondern bedingt die gekonnte Verbindung von scheinbar großen Widersprüchen, von Konflikt und Kompromiss, von Dynamik und Stabilität. Genau darin wird die zukünftige Staatsklugheit der Zeit nach Angela Merkel bestehen müssen, denn über allem schwebt die große Frage unserer Zeit für alle Europäer: Was wird aus uns, aus uns Deutschen und Europäern?

Was wird aus uns in Zeiten der sich zuspitzenden Klimakrise, von Covid-19 und weiterer virologischer Bedrohungen, eines forcierten technologischen Wandels, angeführt von der Digitalisierung, was in Zeiten einer Rückkehr globaler Großmachtrivalitäten, an deren Spitze der heraufziehende Konflikt zwischen den beiden Supermächten des 21. Jahrhunderts, den USA und China, steht?

"Am Ende des gegenwärtigen Jahrzehnts werden das Land und der alte Kontinent in einer völlig veränderten Realität leben."

Auf die neue Koalition in Berlin und – da diese zugleich einen Generationenwechsel mit sich bringt – auf eine neue, jüngere Generation warten riesige Herausforderungen in der Innen- wie in der Außenpolitik und ganz besonders in der Verbindung von beiden, in der Europapolitik. Aber in einer freien Demokratie wird niemand gezwungen, ein öffentliches Amt anzustreben oder gar zu übernehmen. Und es sage niemand, er oder sie habe nicht gewusst, was da auf ihn/sie zukommt. Denn die Welt und mit ihr Europa und Deutschland befinden sich in einem umfassenden, radikalen Umbruch.

Deutschland hat also gewählt, und zwar allem Anschein nach gar nicht so schlecht, nämlich den Aufbruch statt weiteren Stillstands. Am Ende des gegenwärtigen Jahrzehnts werden das Land und der Alte Kontinent in einer völlig veränderten Realität leben. Die Anpassung Deutschlands an diese Zäsur zu möglichst geringen gesellschaftlichen und sozialen Kosten wird die Aufgabe sein, an der eine neue Regierung gemessen werden wird. Die Zukunft verspricht daher sehr "interessant" (im chinesischen Sinne des Wortes) zu werden. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 2.10.2021)