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Ein Stück Sportgeschichte um den Hals: Anna Kiesenhofer.

Foto: Reuters/Hartmann

Lausanne hat Anna Kiesenhofer wieder. Die 30-jährige Niederösterreicherin arbeitet an der École polytechnique fédérale. Ihr Fach ist die Mathematik, ihre Spezialität sind partielle Differenzialgleichungen, ihre Leidenschaft ist der Radsport. Zwischen Theoremen und Training findet sie, ein wenig erschöpft, Zeit für ein Gespräch.

STANDARD: Man hört, Sie hätten auf dem Weg zum Olympiasieg jahrelang keine Freunde gehabt. War es das wert?

Kiesenhofer: Oft lese ich Texte über mich, in denen alles positiv dargestellt wird. Ich sei sowohl akademisch als auch im Sport erfolgreich. Das ist sehr nett, aber ich würde gerne eine Gegenfrage stellen: Ist das gut? Ich kann die Frage nur für mich selbst beantworten: Das Erreichen meiner Ziele war die Opfer über die Jahre wert.

STANDARD: Würden Sie diese Frage ohne Gold ähnlich beantworten?

Kiesenhofer: Ich denke schon. Das Training ist zu neunzig Prozent der Zeit unlustig. Man könnte langsamer fahren, man könnte kürzer fahren, man könnte nicht im Regen fahren. Aber die tägliche Entbehrung macht mich glücklicher als die unmittelbare Schmerzfreiheit.

STANDARD: Es käme überraschend, wenn Sie nicht zu Österreichs Sportlerin des Jahres gewählt werden würden. Welchen Stellenwert hätte diese Auszeichnung?

Kiesenhofer: Es wäre schön. Auf der anderen Seite möchte ich der allgemeinen Meinung keine zu große Bedeutung zuschreiben. Ich bin keine Politikerin, die von einer Wahl abhängt. Mein Glück soll nicht davon bestimmt sein, was man über mich denkt. Wenn ich positive Meinungen sehr schätze, müsste ich mich bei negativen Kommentaren verkriechen. Ich sehe das also lieber mit gesundem Abstand.

STANDARD: Sie bezeichnen sich selbst als "Streberin". Ist dieses Wort nicht negativ besetzt?

Kiesenhofer: Für mich nicht. Ein strebsamer Mensch arbeitet hart für seine Ziele. Aber wir können auch "ein fleißiger Mensch" sagen, dann klingt es vielleicht positiver. Das Wissen, diszipliniert gewesen zu sein, gibt mir Genugtuung. Ich habe immer alles gegeben, um in bestmöglicher Form an den Start zu gehen. Um die Beste zu sein, die ich sein kann.

Kiesenhofer in ihrem Garten in Lausanne. Wer braucht schon Gartenmöbel, wenn man Gold und ein Bike hat?
Foto: Lundi13/Fred Merz

STANDARD: Sie gelten als introvertiert. Kommt Ihnen die gewonnene Aufmerksamkeit zupass?

Kiesenhofer: Man freut sich, das ist menschlich. Ich will nicht leugnen, dass es schön ist, Anerkennung zu erfahren. Meine Freizeit verbringe ich aber lieber allein oder im kleinen Kreis. Bei sozialen Kontakten bin ich heikel. Aber ich habe mich an Anfragen von Außenstehenden gewöhnt. Im Unterschied zu vorher brauche ich nun Antworten für die Öffentlichkeit.

STANDARD: Wie ist das zu verstehen?

Kiesenhofer: Es sind Parallelwelten: Öffentlichkeit versus Privatsphäre. Nennen wir ein Beispiel: Was habe ich auf den letzten Kilometern am Weg zu Gold gedacht? Ich lüge fast nie, aber ich will nicht alles preisgeben. Das sind persönliche Dinge. Es ist mir ein Bedürfnis, kein völlig gläserner Mensch zu sein. Ich denke nicht Böses. Aber ich möchte nicht, dass alle Menschen meine Gedanken lesen können.

STANDARD: Geben Sie sich deshalb auf Instagram eher zurückhaltend?

Kiesenhofer: Ich poste ab und zu. Es wäre blöd, wenn ich verschwinden würde. Ich bin zur Person des öffentlichen Lebens geworden. Vor Tokio sah ich keine Notwendigkeit, etwas auf Instagram zu schreiben. Ich hatte keine Sponsoren zu vertreten. Also, wozu sollte ich? Will ich angeben? Habe ich das nötig?

STANDARD: Viele Menschen haben es offensichtlich nötig.

Kiesenhofer: Ich nicht. Wenn ich Informationen teile, gebe ich meinen Konkurrentinnen Waffen in die Hände. In Tokio war es Gold wert, unbekannt zu sein. Man hat mich ziehen lassen, weil man mich unterschätzt hat. Alles, was man über sich preisgibt, ist ein Risiko. Je besser einen die anderen verstehen, desto verletzlicher macht man sich.

Auf der Fahrt zu Gold im Fuji Speedway.
Foto: imago images/Belga

STANDARD: Der Triumph als Amateurin hat Ihren Sieg aufgewertet. Sehen Sie das auch so?

Kiesenhofer: Der Erfolg wäre als Profi derselbe gewesen. Wichtiger ist, dass ich mir über alles Gedanken gemacht habe. Ich war mein eigenes Team. Man kann nicht alles im Alleingang machen, aber ich hatte immer die Zügel in der Hand. Viele Sportler sind fremdbestimmt. Bei mir ist das anders. Ich war der Mastermind hinter meinem Erfolg.

STANDARD: Ist diese Herangehensweise im Sport nicht unzeitgemäß?

Kiesenhofer: Das klingt, als würde ich hinterherhinken. Wer nicht zeitgemäß agiert, lebt in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Ich würde sagen, dass es fortschrittlich war. In die Pedale treten können viele. Wenn es nur um Watt geht, kann ich mit den besten zehn der Welt nicht mithalten. Ich halte mit Planung dagegen.

STANDARD: Ihr Alleingang ist nicht finanziellen Engpässen geschuldet?

Kiesenhofer: Nein, durch den Job habe ich mehr Geld als die meisten anderen Profiradsportlerinnen. Ich hatte in der Vergangenheit Trainer. Ich habe aber keine Person gefunden, zu der ich richtig Vertrauen fassen konnte. Mich hat niemand überzeugt. Ich habe immer gelesen und mir eine Meinung gebildet. Oft hat das nicht mit dem harmoniert, was der Trainer gesagt hat.

STANDARD: Autoritäten scheinen generell nicht Ihr Ding zu sein.

Kiesenhofer: Ich rede mit vielen Menschen, das ist bereichernd. Ich lasse aber niemanden für mich eine ultimative Entscheidung treffen. Man muss nicht alles glauben, nur weil jemand einen Titel vor dem Namen trägt oder sich Coach nennt. Die wissen nicht alles besser.

Bei den olympischen Spielen von Paris 2024 visiert Kiesenhofer das Zeitfahren an.
Foto: imago images/Sirotti

STANDARD: Ist man auf der Uni nicht auch mit Autoritäten konfrontiert?

Kiesenhofer: Dort sind Autoritäten anders abgesichert. Ein Universitätsprofessor kann sich kaum bis nach oben schummeln. Trainer gibt es hingegen wie Sand am Meer. Irgendein Zertifikat hat man schnell. Ich glaube einem Theorem nur, wenn ich einen Beweis habe.

STANDARD: Arbeiten Sie auch in der Mathematik als Einzelkämpferin?

Kiesenhofer: Man arbeitet häufig allein. Gute Ideen muss man oft selbst generieren. Es gibt in der Mathematik verschiedene Typen. Manche ziehen sich zurück und schreiben im stillen Kämmerchen ihre Theoreme. Heutzutage ist es aber fast üblicher, auf Konferenzen zu gehen. Das liefert Stoff für neue Ideen.

STANDARD: Ist die Wissenschaft wie der Sport ein Wettbewerb?

Kiesenhofer: Schon. Allerdings ist das in der Mathematik weniger ausgeprägt als in anderen Bereichen. Wenn man in der Mathematik ein Paper schreibt, werden die Namen der Autoren alphabetisch gereiht. In anderen Wissenschaften wird die Reihenfolge ausgestritten. Da möchte man seinen Namen ganz oben stehen haben.

STANDARD: CNN hat Sie als Genie bezeichnet. Wird die Mathematik überhöht wahrgenommen, weil die meisten nur das Einmaleins beherrschen?

Kiesenhofer: Ich würde mich niemals so bezeichnen. Ich arbeite mit intelligenten Menschen. Dieses Umfeld ist so intellektuell, dass man sich sogar unterschätzt. Ich fühle mich im akademischen Umfeld unterdurchschnittlich schlau. Vielleicht vergleiche ich mich mit den falschen Leuten.

STANDARD: Sie sind erst die fünfte Goldmedaillengewinnerin aus Österreich im Sommer. Was läuft da falsch?

Kiesenhofer: Ich kenne mich im österreichischen Sport nicht aus. Ich habe unabhängig von staatlichen Netzwerken gearbeitet. Ich kann dazu nichts sagen.

Die fünfte österreichische Olympionikin im Sommer.
Foto: imago images/AFLOSPORT

STANDARD: Anders gefragt: Haben Sie auf mehr Unterstützung gehofft?

Kiesenhofer: Ich wurde 2016 bei den Staatsmeisterschaften im Zeitfahren Zweite. Ich dachte, das sei nichts Besonderes. Aber sollte man eine Anfängerin, die einfach so Zweite wird, nicht fördern? So ein Potenzial zu übersehen ist einfach nur blöd.

STANDARD: Sie wurden also mehr oder weniger ignoriert?

Kiesenhofer: Man darf bei Rennen an den Start gehen. Ansonsten gab es keine Unterstützung. Klaus Kabasser, den sportlichen Leiter des Nationalteams, möchte ich ausnehmen. Ich bin ihm sehr dankbar. Die Lorbeeren wollen andere ernten.

STANDARD: Haben sich die falschen Menschen in Ihrem Erfolg gesonnt?

Kiesenhofer: Jeder will ein Stück vom Kuchen. Das ist unangenehm. Manche Leute hatte ich um Hilfe gebeten, doch es kam keine Antwort. Jetzt tun sie so, als wären sie immer da gewesen, als wäre der Erfolg auf ihrem Mist gewachsen. Aber diese Leute wissen selbst, dass sie nichts dazu beigetragen haben.

STANDARD: Haben sich die Grundvoraussetzungen durch den Olympiasieg geändert?

Kiesenhofer: Vor Jahren hätte ich die Unterstützung eher benötigt. Heute brauche ich die Zuwendungen weniger. Ich freue mich natürlich trotzdem und bin dankbar, da es mir Möglichkeiten eröffnet. Aber um ehrlich zu sein, wäre Talentförderung wichtiger. Es ist immer problematisch, wenn die Unterstützung erst als Belohnung für bereits erbrachte Leistungen kommt. Wer hat, dem wird gegeben. (Philip Bauer, 3.10.2021)