Wo geht es hier zum nächsten Laufsteg? Das tadellose Schauspiel-Graz-Ensemble (eingezwickt: Evamaria Salcher) macht Mode.

Foto: Ruiz-Cruz

Elfriede Jelineks Stück Das Licht im Kasten gleicht einer Prêt-à-porter-Schau. Doch anstatt Kleidungsstücke der Luxusklasse zu drapieren, bittet die Literaturnobelpreisträgerin zum ultimativen Schlussverkauf. Ohnehin gilt für Jelineks Sprechtexte von jeher: Alles muss raus! Und im Schauspiel Graz war die Premiere Corona-bedingt länger zurückgehalten worden, als allen lieb sein konnte.

Feilgeboten werden in diesem 2017 in Düsseldorf uraufgeführten Text Versatzstücke. In einer Mischung aus Ekel und Faszination – und viel Modebewusstsein – verwandelt Jelinek den schlichten Vorgang des Gewandeinkaufs in ein sprachlich spektakuläres Hochamt: abgehalten in den typischen Jelinek-Sätzen, unendlichen Litaneien, in denen die Autorin vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt. Sie feiert, mit viel reinigendem und peinigendem Wortschaum vor dem Mund, die zyklische Wiederkehr von Verwandlung und Verkleidung: eine Art Ur-Szene gesamtgesellschaftlicher Transaktion.

Kleider machen nicht nur Leute. Sie prägen unfehlbar das Bewusstsein derer, die meinen, in ihnen für alle anderen unwiderstehlich zu sein. Die doch nur dem Bild hinterherhetzen, das das iPhone von ihnen im Speicher bereithält. Oh Wunder: Die erste Modepuppe in Graz ist ausgerechnet als Model ein glatter Reinfall. Sprecher 1 (Oliver Chomik) ist ein kräftiger, gut eingeölter Mann aus Fleisch und Blut. Der erste Eindruck: viel Muskelsub-stanz, wenig bis gar kein Stoff.

Sein Gemächt verdeckt er mit einem Schnäuztuch. Der Rest ist, wiewohl von bezwingender Nacktheit, noch lange nicht "natürlich". Viel zu tief wirken die gesellschaftlichen Zwangsmächte mit ihrer Aufforderung: Fit, mach mit! Und, O-Ton Jelinek: "Es gibt jetzt eine Satzung im Gesetz, dass man Orgien feiern muss." Selbst die lustvolle Verausgabung wird einem als Pflicht auferlegt.

Den Tod auf den Fersen

Dem nackten Sprecher heftet sich alsbald "der Tod" auf die Fersen. Von nun an herrscht in Franz-Xaver Mayrs formschöner Inszenierung ein etwas unheilvoller Drang zur Abzähl-Dramaturgie, angewendet auf ein Ensemble von zehn Darstellern beiderlei Geschlechts: dein Auftritt, liebes Model!

Von der Decke baumeln annähernd schwarze Plastikbahnen (Bühne: Korbinian Schmidt). Kalkweiße Potentaten (Florian Köhler) reden vom hohen Wehr herab, Könige der Outlets irgendwo zwischen Mykene und Parndorf. Zwillingsgestalten mit dem Aussehen von Wasserleichen hetzen mit dem schönen, metronomischen Ernst von parallel geführten Sekundenzeigern über die Bühne. Dazu zählen sie, streng rhythmisiert, von eins bis etwa 250.

Überhaupt ist hier niemand auf den Mund gefallen. In den Suaden kommt Jelinek verlässlich vom Hundertsten zum Tausendsten. Vom Hosenbund ausgehend, landet sie bei Gisele Bündchen. Nichts hält. Von geringster Wertbeständigkeit ist ohnehin das Modell vom vergangenen Jahr. "Die Menschen können sich gar nicht schnell genug vergeuden." Und weil Jelinek von der "Größe" der Kleider auf diejenige des Menschengeschlechts schließt, fühlt man sich angenehm kritisch bei der Hand genommen. Anthropologie ist ein lohnender Zeitvertreib.

Dass es der Autorin die Zornesröte ins Gesicht getrieben haben könnte: Davon, und vom notorischen Skandal unserer gesellschaftlichen Verwertungszyklen, weiß dieser adrette Abend voller gehätschelter Sekundärtugenden ("Spielfreude des gesamten Ensembles") nicht das Geringste zu berichten. Da tätowiert eine Opernsängerin (Johanna Sophia Baader) einen allerliebsten roten Punkt auf ein geschmerztes Gesäß. Eine tapfere Schneiderin gerät mit der Hand in die Nähmaschine. Schwarz gewandete Weise bilden Marschkolonnen, und zwei anonyme Hohepriester führen zu markerschütternder Musik (Komposition: Matija Schellander) Rundtänze auf.

Wie immer sind Jelineks "Theatertextflächen" auch dieses: ein ideales Trampolin, um die Gedanken zum Fliegen zu bringen. Ein Hoch den Schauspielerinnen für ihr hochvirtuoses Artikulieren! Das Publikum in Graz war es zufrieden. Das nächste Mal besinnen wir uns wieder auf Jelineks Reißzahn. Der schont nämlich keine Hosenböden. Gerade in einer kommunistischen Stadt wie Graz müsste dafür doch einiges Verständnis zu finden sein. (Ronald Pohl, 3.10.2021)