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Ein unabhängiger Untersuchungsbericht enthüllt einen Skandal in Frankreichs katholischer Kirche. Demnach haben tausende Priester Minderjährige sexuell missbraucht.

Foto: REUTERS/Eric Gaillard

Die französischen Katholiken wurden schon in ihrer Sonntagsmesse aufgefordert, für die Opfer kirchlicher Sexualstraftäter zu beten. Eine "Prüfung der Wahrheit" stehe bevor, ein "harter und gravierender Augenblick". Gemeint ist die Veröffentlichung eines unabhängigen Untersuchungsberichts am Dienstag.

Unter Anleitung des Spitzenfunktionärs Jean-Marc Sauvé haben 22 Pädagogen, Psychologinnen und Juristen unter Ausschluss von Klerikern über zwei Jahre lang Archive durchforstet und Zeugen befragt. Sie hörten 250 Opfer an, führten 3.600 Telefongespräche und werteten 2.800 Briefe aus. Als sich unter den französischen Katholiken herumsprach, dass die Kommission wirklich unabhängig handelte, fassten sich viele Opfer ein Herz, erstmals überhaupt über das Durchgemachte zu berichten.

Opfer auf 10.000 geschätzt

Die Bilanz ist erschreckend: Seit 1950 sollen sich zwischen 2.900 und 3.200 Kirchenleute sexueller, mehrheitlich pädokrimineller Vergehen schuldig gemacht haben, wie Sauvé im Voraus bekanntgab. Zur Zahl der Opfer machte er noch keine genauen Angaben, Eingeweihte schätzen sie auf 10.000. Das Ausmaß läge damit in etwa doppelt so hoch wie in Deutschland, wenn man auf die MHG-Studie von 2018 abstellt (1.670 Täter, 3.677 Opfer).

Erschüttert waren die Mitglieder der von der französischen Bischofskonferenz einberufenen Kommission nicht nur durch die Zahlen. Sie erhielten ewiggleiche Praktiken geschildert – alle Arten von Berührungen, Fellatio, Penetration, Folter, Sklavenhaltung. "Wir waren mit einer Welt des Sadismus, des Irrsinns und der Perversion konfrontiert, die man nie für möglich gehalten hätte", meinte die Kinderschützerin Alice Casagrande. Die meisten Kommissionsmitglieder mussten selbst in psychologische Betreuung, um die Schilderungen zu verkraften.

Jean-Marc Sauvé, Leiter der Untersuchungskommission, gab im Voraus bekannt, dass sich zwischen 2.900 und 3.200 Kirchenleute sexueller, mehrheitlich pädokrimineller Vergehen schuldig gemacht haben sollen.
Foto: APA / AFP/ JOEL SAGET

Sauvé bezeichnet den 2.000-seitigen Bericht als "ungeschminkt". Positiv sei, dass die Kirche bereit gewesen sei, ihre Archive seit 1950 zu öffnen. Das ist nicht ganz selbstverständlich in einem Land, wo viele Dokumentationen – etwa zur französischen Beteiligung am Völkermord von 1994 in Ruanda – unter Verschluss bleiben.

Lyoner Erzbischof als Auslöser

Nach ähnlichen Untersuchungsberichten aus Irland, Deutschland, Australien und den USA konnte die "älteste Tochter der Kirche" – wie sich der französische Katholizismus noch heute sieht – die Augen allerdings nicht weiter verschließen. Auslöser der Kommissionsarbeit war der Fall des Lyoner Erzbischofs Philippe Barbarin, der einen pädophilen, heute verurteilten Priester mutmaßlich gedeckt hatte. Der höchste Würdenträger der französischen Kirche wurde zwar 2020 freigesprochen; sein Amt hat er trotzdem niedergelegt, nachdem der Spielfilm "Grâce à Dieu" seinen exemplarischen Fall weithin bekannt gemacht hatte.

Sauvé billigt der katholischen Kirche zu, sie habe die Lehren gezogen. In den 50er- und 60er-Jahren habe sie die Beschwerden von Opfern noch schlicht ignoriert, später meist weggeschaut. Seit der Barbarin-Affäre habe sie eine Anlaufstelle und eine Webseite für Opfer pädokrimineller Kirchenleute eingerichtet.

Ob der Untersuchungsbericht strafrechtliche Folgen für einzelne Täter hat, wird von den Opfern abhängen. Viele Fälle sind schon verjährt. Davon zeugt ein neues Buch des heutigen Priesters Patrick Goujon, der im Alter zwischen sieben und elf von einem Abt missbraucht worden war. Offenbar wegen seines unbewussten Selbstschutzes erinnerte er sich erst im Alter von 48 Jahren plötzlich an alles. Da waren die pädokriminellen Akte verjährt.

Verantwortung der Kirche

Pariser Medien warfen am Montag die Frage auf, ob man bei 3.000 Tätern, also knapp drei Prozent der 115.000 französische Priester, über einen Zeitraum von 70 Jahren noch von Einzelfällen sprechen könne – oder ob nicht ein System, wenn nicht Methode dahinterstecke. Kommissionspräsident Sauvé antwortete ohne Umschweife, dass die Kirche als Ganzes in der Verantwortung stehe. So wie der Sportunterricht einen leichteren Zugang zum Körper erlaube, öffne die Kirche den Weg zum Bewusstsein; und das könne ein Umfeld schaffen, "das spirituellem Missbrauch, begleitet von sexuellem Missbrauch, förderlich" sei.

Die französischen Bischöfe haben sich in den vergangenen Jahren mehrfach im Vatikan erkundigt, wie sie auf den Bericht reagieren sollen. Wie das "Journal du dimanche" berichtet, habe ihnen Papst Franziskus geantwortet: "Den Dingen ins Auge schauen und die Opfer begleiten." Mit päpstlicher Billigung will die französische Bischofskonferenz noch in diesem Herbst ein kirchenrechtliches Strafgericht für pädokriminelle Delikte schaffen. Für die Opfer richtet sie einen Fonds von fünf Millionen Euro ein, der laut der Bischofssprecherin Karine Dalle je nach den genauen Opferzahlen des Berichts noch höher ausfallen könne.

Der Vorsteher eines Opferverbands, François Devaux, äußerte sich skeptisch, ob die Kirche wirklich bereit sein werde, ihre "unglaubliche Mechanik des Schweigens" zu überwinden. Bis heute sei unklar, welchem Profil die Täter entsprächen, warum die Verjährungsfristen nicht verlängert würden – und warum die Kirche eine interne Justiz beschäftigen könne. Nötig wäre zu diesen Fragen ein Drittes Vatikanisches Konzil, meint der ehemalige Pfadfinder, der von sich selber sagt, ihm sei sein Glaube abhandengekommen. (Stefan Brändle aus Paris, 4.10.2021)