Auch im Berliner Verkehrsnetz lässt sich die Weitergabe von tradiertem Unrecht sprachlich schwerlich verleugnen.

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Kein Mensch guten Willens kann die Verwalter unserer Kultureinrichtungen daran hindern, humaner zu denken und zu sprechen, als es noch unsere Vorfahren vermocht haben. Für die Beschäftigten der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) bedeutete die zuletzt vorgenommene Umbenennung einiger Kunstwerke wahrlich keine Herkulesaufgabe. Die bildnerische Darstellung eines kleinwüchsigen Menschen kommt – um nur ein Beispiel aus dem Dresdner Zwinger zu nennen – gut ohne die Zuweisung des Begriffs "Zwerg" aus.

Auf das historisch verbürgte Leid, über das die Stereotype sprachlicher Konvention hinweggleiten, gehört mit Nachdruck hingewiesen: gerade in den Kulturschatzkammern einer vielfach auf Ausbeutung gegründeten Zivilisation. Insofern leistet der Vorgang der Umbenennung zweierlei. Er aktualisiert den Schmerz der Diskriminierung. Er hebt den Unrechtsgehalt, der sich für die "Sieger" von gestern verflüchtigt hat, zurück ins Bewusstsein. Zugleich soll das Unrecht ein für alle Mal aus der Welt geschafft werden: mit der endgültigen Tilgung des Unwortes, zum Beispiel jenes sattsam verbannten, das mit "N" beginnt.

Aussonderung des Worts

Den Vorgang zeichnet, ganz gleich, ob er einen "Mohren im Hemd" betrifft oder eine "schwarze Venus", eine bestimmte Abfolge aus. Zunächst wird der diskriminierende Gehalt identifiziert. Anschließend wird das betreffende Wort, nach Durchführung der Kritik, zur Aussonderung freigegeben. Ziel ist seine spurlose Löschung aus den Annalen von Herrschaft und Gewalt. Insofern darf die Praxis der identitätspolitischen Korrektur für sich beanspruchen, Teil einer Rückorientierung zu sein. Diese setzt voraus, dass es vornehmlich die Sprache ist, die das Medium politischer Macht bildet: weil Politik im Medium der Sprache operiert wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser.

Das politische Repertoire ist reichhaltig. Es umfasst Argumente, Programme und Resolutionen, enthält zudem Befehle, Entschließungen, Verbote und, neueren Datums: "Fake-News". Dazu kommt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: das Dementi wissenschaftlicher Fakten. Am anderen Ende der Skala wird man die performativ wirksame Gewalt von "Hatespeech" vorfinden und sie, ohne zu zögern, den Sprachereignissen zuschlagen.

Es war der russische Philosoph Boris Groys, der vor kaum 20 Jahren den unschätzbaren Hinweis lieferte auf die sprachliche Vollendung von Politik: im Rückgriff auf den griechischen Philosophen Platon. Der erklärte in seiner Politeia die Vertreter der eigenen Zunft zu den bestgeeigneten Herrschern über jedes Gemeinwesen. Der Grund war für ihn logisch. Einzig und allein der Philosoph vermag das Ganze der Gesellschaft zu denken. Alle anderen verlieren sich bloß in der Artikulation ihrer privaten Interessen.

Das Ganze der Gesellschaft zu denken bedeutet seither, das Ganze der Sprache zu denken. In ihr, als Medium, spricht sich die Gesellschaft zur Gänze aus. Viele Jahrhunderte später waren es übrigens die Kommunisten, die diesen "linguistic turn" in der politischen Philosophie ultimativ auf die Spitze trieben.

A ist gleich Nicht-A

Karl Marx räumte die Macht der Idee ein. Diese verwandelt sich, sobald sie die Massen erfasst hat, in eine materielle Kraft. Mit der Lehre des dialektischen Materialismus konnten getrost alle Widersprüche artikuliert werden: Da das Leben in seinem Inneren widersprüchlich ist, muss es in Paradoxa gefasst werden. Wer A sagt, sollte imstande sein, gleichzeitig Nicht-A zu denken. Nur das Ganze ist lebendig. Wer einseitig dachte, fiel häufig genug dem Stalin'schen Terror zum Opfer.

Man muss, gut 30 Jahre nach der Wende, nicht zum Kommunismus übertreten, um die Auswirkungen zu erahnen, die eine solche "Versprachlichung" der Gesellschaft nach sich zieht. Die Ökonomie mag im neoliberalen Kapitalismus ausschlaggebend sein; doch sie funktioniert einzig und allein im Medium Geld. In ihr wird die Bestätigung oder Widerlegung menschlichen Handelns in Zahlen ausgedrückt. Das Zutrauen in die Wirksamkeit sprachlichen Handelns aber teilt die Political Correctness mit dem Kommunismus. Dieser trachtete danach, sämtliche Artikulationen von Widerspruch in seinem gefräßigen dialektischen Bauch zu verdauen. In ihm wurde die Kritik an der Ökonomie von dieser abgespalten – und in die Sphäre der Sprache versetzt. Die "woken" Umbenenner des überlieferten Unrechts teilen also das Vertrauen, das die Kommunisten in die Macht der Sprache gesetzt haben.

Nur wählen sie den entgegengesetzten Weg. Sie unterziehen die Welt, wie sie an sie weitergegeben worden ist, einer unermüdlichen Neuredaktion. Sie überschreiben die Unwörter. Die Welt wird Ziel einer Überarbeitung durch Lektoren; die Konferenz der "woken" Sachbearbeiterinnen tagt in Permanenz. Heraus kommt eine Art Neuversion der Welt: eine widerspruchsbereinigte Fassung von ihr, eine menschenfreundliche Redaktion letzter Hand. Ein Gedanke, süß wie Honig. (Ronald Pohl, 5.10.2021)