Es ist eine von Unternehmen oft vorgebrachte Klage: Die Arbeitsmoral sei in der Corona-Krise gesunken. Die Pandemie und die mit ihr einhergehenden Maßnahmen wie Lockdowns und Kurzarbeit hätten eine Veränderung der Einstellungen zur Arbeit bewirkt. Branchen wie die Gastronomie oder der Handel suchen darin eine Begründung für die immer häufigeren Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen. Stimmt es, dass Krise und weniger Arbeitsmoral zusammenhängen? Die Daten des Austrian Corona Panel Project (ACPP) zeigen ein differenzierteres Bild.

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Arbeitswerte und Jobpräferenzen

Arbeitswerte, also die Grundeinstellungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu ihrer Arbeit, können in der Umfrageforschung nicht direkt gemessen werden, sondern werden über die Jobpräferenzen erfasst. Dazu gehören Erwartungen an die Arbeit, etwa ein hohes Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit, Kontakt mit anderen Menschen oder Kreativität. Für österreichische Beschäftigte ist die Höhe des Einkommens weniger wichtig als beispielsweise Arbeitsplatzsicherheit. Damit ähnelt Österreich im europäischen Vergleich den skandinavischen Ländern und der Schweiz. Auch dort verdienen Beschäftigte im Durchschnitt so gut, dass andere Aspekte an Bedeutung gewinnen können.

Wenn Unternehmen über sinkende Arbeitsmoral ihrer Beschäftigten klagen, dann meinen sie damit, dass deren Bereitschaft, sich für das Unternehmen einzusetzen, abnehme. Um jedoch dafür die Pandemie als Ursache plausibel zu machen, müssten sich im Laufe der Pandemie deutliche Änderungen der Arbeitswerte zeigen.

Bernhard Kittel ist Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Wien und Leiter des Austrian Corona Panel Project.
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Arbeit und Freizeit

Die Bereitschaft, sich für ein Unternehmen einzusetzen, zeigt sich unter anderem in der Bedeutung, die Freizeit gegenüber Arbeit besitzt. Zwischen 2016 (European Social Survey) und der Erhebung des ACPP im Juli 2020 lag der Anteil der unter 36-Jährigen, denen es "sehr wichtig" ist, dass ihr Job ihnen viel Freizeit lässt, knapp unter 40 Prozent. Dieser Anteil stieg bis März 2021 auf ein Maximum von 45 Prozent und lag im September 2021 bei 41 Prozent. Bei den 36- bis 64-Jährigen stieg dieser Anteil hingegen schon zwischen 2016 und Juli 2020 von etwa einem Viertel auf gut ein Drittel und erreichte im September 2021 39 Prozent. Hinzu kommen in beiden Altersgruppen etwa 50 Prozent, die viel Freizeit "eher wichtig" finden. Somit lässt sich aus den Daten in der Tat ein leichter Anstieg der Bedeutung von Freizeit ablesen.

Betrachten wir nicht die Präferenzen, sondern die normativen Vorstellungen, so stimmten 2017 in der European Values Study 35 Prozent der Aussage "Arbeit geht immer vor Freizeit" "eher" oder "voll und ganz" zu. Im Juli 2020 ist dieser Wert auf 26 Prozent bei den Jüngeren und auf 29 Prozent bei den Älteren gesunken, was ebenfalls zur These einer sinkenden Arbeitsorientierung passt. Im weiteren Verlauf bis September 2021 ist diese jedoch wieder etwas angestiegen, allerdings ohne bisher das Vorkrisenniveau zu erreichen.

Wandel über Generationen

Österreichs Beschäftigte legen somit großen Wert auf einen sicheren Arbeitsplatz, dieser soll aber viel Freizeit erlauben. Die Pandemie hat die Bedeutung von Freizeit gegenüber Arbeit zwar nochmals akzentuiert, die gemessenen Verschiebungen sind jedoch zu klein, um eindeutig als Kriseneffekt gelesen werden zu können. Veränderungen des Stellenwerts von Arbeit sind einem gesellschaftlichen Prozess unterworfen, bei dem sowohl die Sozialisation in eine bestimmte Zeit als auch altersspezifische Präferenzen eine Rolle spielen. Die Ansprüche an das eigene Leben verschieben sich. Wenn heute das Einkommen als zentrale Zielgröße aus dem Blickfeld schwindet, tritt die Verwirklichung des eigenen Ichs stärker in den Vordergrund. In einer Arbeitswelt, in der alle steigendem Leistungsdruck ausgesetzt sind, aber nur der oder die Beste Anerkennung findet, ist es zunehmend schwer, solche Ansprüche zu befriedigen. In der Freizeit stehen die Chancen auf Anerkennung besser. Krisen wie die Covid-19-Pandemie erzeugen nur eine kurzfristige Beschleunigung dieses langfristigen gesellschaftlichen Trends. (Bernhard Kittel, 12.10.2021)