An einem sonnigen Herbsttag in Berlin-Marzahn steht Petra Pau vor einer Grillhütte und tut so, als wäre nichts geschehen. Bevor sich die 58-Jährige mit dem roten, kurzgeschnittenen Haar und der gedämpften Stimme daranmacht, ihre Partei zu retten, will erst einmal der kleine, bunt bemalte Kobel aus Spanholzplatten eingeweiht werden, der den Bewohnerinnen und Bewohnern der Plattenbauten ringsum rechtzeitig vor dem Winter als verlängertes Wohnzimmer dienen soll.

Für Pau, die den 274.000 Menschen zählenden Wahlkreis im äußersten Osten Berlins seit 2002 im Deutschen Bundestag vertritt, ist so ein Termin am Freitagnachmittag wie ein Heimspiel. Ein paar Dutzend Menschen sind gekommen, man ist per Du mit der bisherigen Vizepräsidentin des Bundestags, die die Linken-Politikerin seit 2006 ist. Es gibt Hotdogs und Kaffee, aus dem Lautsprecher dringt "Hulapalu" von Andreas Gabalier. Kinder spielen Dosenwerfen, Erwachsene bieten am Flohmarkt Schallplatten feil. Und Petra Pau sucht nach einer Antwort.

Petra Pau (li.) mit Juliane Witt, Bürgermeisterkandidatin der Linken in Marzahn-Hellersdorf. Auch sie muss ihr angestrebtes Amt überraschend der CDU überlassen.
Foto: Niederndorfer

Denn seit der Bundestagswahl vor einer Woche ist die Welt der Linken auch hier, in ihrer Hochburg, aus den Fugen geraten. Oder gerade hier. Zum ersten Mal seit der Wende ist die Partei nicht mehr stärkste Kraft in Marzahn-Hellersdorf, wo die größte Wohnhausanlage der DDR steht. Nicht nur einmal diente die "Platte" hart an der Grenze zu Brandenburg gleichsam als Lebensversicherung für die Partei, die schon öfter auf das Direktmandat von Petra Pau aus Marzahn-Hellersdorf angewiesen war, um in den Bundestag einzuziehen.

Bis die rote Bezirkskaiserin am vorvergangenen Sonntag im eigenen Wahlkreis entthront wurde. Während die halbierte Linke (2017: 9,2 Prozent, 2021: 4,9 Prozent) anderswo vor allem an SPD und Grüne verlor, unterlag Pau ausgerechnet einem CDU-Mann. Nur ein Direktmandat in Leipzig und zwei in anderen Ostberliner Bezirken retteten die Partei vor dem Untergang.

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Der Schock sitzt auch an diesem sonnigen Nachmittag tief. "Dabei sind noch immer wir die Kümmererpartei", sagt Pau trotzig. Bis heute hört sie sich einmal im Monat im Wahlkreisbüro ein paar Ecken von ihrer Wohnung entfernt die Sorgen der Menschen an. "Natürlich werde ich das weiterhin tun", erklärt Pau.

Die neue Grillhütte (links im Bild) wurde bei Sonnenschein inmitten der Plattenbausiedlung eingeweiht.
Foto: Niederndorfer

Doch ob Alleinerziehende, die kurz vor der Delogierung stehen, dann auch die Linke wählen, nur weil sie ihnen geholfen hat, weiß Pau nicht. Und ob Dankbarkeit eine politische Kategorie ist, ebenso wenig. Was bleibt, ist kühle Analyse: "Die Transformationserfahrungen vieler Menschen nach der Wende haben mit der Lebenswelt der Jungen heute nicht mehr viel zu tun." Nun müsse sich die Partei erneuern, fordert Pau.

Denn das Problem, mit dem die Linke nun konfrontiert ist, bestehe nicht erst seit dem Wahlkampf. "Uns wird schon seit einigen Jahren keine Durchsetzungskompetenz zugeschrieben", sagt Pau. "Wir haben noch immer die Situation dass die Ostrenten geringer sind als die im Westen und dass Ossis für weniger Lohn länger arbeiten müssen. Es wird zwar anerkannt, dass wir diese Probleme seit 1990 konsequent auf die Tagesordnung setzen, aber man traut uns offensichtlich nicht zu, Bestandteil einer Mehrheit zu sein, die das auch wirklich anpackt." Dieses Jahr hätten aber viele Menschen auch taktisch gewählt und ihr Kreuz dann doch bei der SPD gemacht anstatt bei der Linken.

Was es nach dem "Warnschuss" brauche, sei eine programmatische und strategische Debatte: Aus der ostdeutschen Protestpartei soll, wenn es nach Pau geht, eine europäische Zukunftspartei werden, die sowohl ein wenig Piratenpartei als auch Grün ist.

Aber hat die Paradelinke Sahra Wagenknecht nicht am Ende doch recht, wenn sie öffentlich beklagt, die früherer ostdeutsche Volkspartei sei mittlerweile zu weit weg von den Sorgen der Menschen und näher dran an der urbanen Akademikerin als am Arbeiter am Werkstor?

Viele Faktoren sind hausgemacht

Für den Berliner Politikwissenschafter Wolfgang Merkel kommt der Absturz der Linken keineswegs überraschend. "Die Ausgrenzung der populärsten Politikerin der Partei, Sahra Wagenknecht nämlich, war ein massiver Fehler". Doch es kämen noch einige Faktoren dazu, manche sind hausgemacht: "Einerseits hat die Partei einen natürlichen Aderlass durchgemacht, weil die alte DDR-Klientel langsam ausstirbt", sagt er. Anderseits habe die Linke auch ihren Status als Protestpartei im Osten eingebüßt: "Dort wählt man jetzt gleich die AfD."

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Am Wahlabend stand der Schock vielen Wählerinnen und Wählern der Linken ins Gesicht geschrieben.
Foto: REUTERS/Cathrin Mueller

In Marzahn-Hellersdorf will zum Thema Wagenknecht an diesem Nachmittag niemand etwas sagen. Hinter vorgehaltener Hand machen aber so manche Sympathisantinnen und Sympathisanten der Linken den rüden Umgang der Partei mit ihrer bekanntesten Politikerin für den Abstieg verantwortlich. Und auch die Wahlarithmetik gibt Wagenknecht – jedenfalls indirekt – recht. Während man im Plattenbau ein Debakel einfuhr und die alten Parteikader nach und nach wegsterben, vermochte man im Multikultibezirk Neukölln zumindest bei der gleichzeitig stattfindenden Berliner Lokalwahl Zugewinne zu verbuchen. 100 neue Mitglieder sind zudem seit Beginn des Jahres dazugekommen, ein Dutzend allein seit der Wahl, berichtet man stolz.

Carla Aßmann von der Linken in Neukölln widmet sich Basisarbeit.
Foto: Niederndorfer

Kein Widerspruch

Für Carla Aßmann, die als Umweltsprecherin der Linken im Neuköllner Rathaus sitzt, ist es kein Widerspruch, gleichzeitig gegen Diskriminierung und gegen Ausbeutung zu kämpfen. Mit Sahra Wagenknechts Kritik kann sie nichts anfangen. Seit zehn Jahren ist die 38-Jährige, eine studierte Historikerin und in Westberlin geboren, bei den Neuköllner Linken aktiv. 45 Minuten braucht man mit der S-Bahn aus Marzahn nach Neukölln. In den Lokalen, die sich dort rund um die Karl-Marx-Straße in den renovierten Altbauten angesiedelt haben und Namen wie "Kapital" tragen, sitzen Expats neben Shisha-rauchenden Jugendlichen. "Wagenknechts Sicht ist weltfremd", findet Aßmann. "In den Krankenhäusern kämpfen auch deutsche und migrantische Pflegekräfte zusammen."

Im Wahlkreisbüro stapeln sich noch die Plakate und Flyer, mit denen die Partei auch auf Türkisch und Arabisch geworben hat. Anders als in Marzahn, wo die Linke versucht, ihr Kümmererimage zu retten, setzt man in Neukölln auf "bewegungsorientierte Arbeit", kämpft mit lokalen Initiativen gegen zu hohe Mietpreise und setzt sich gegen Rassismus und für neue Fahrradwege ein. Geschadet habe der Partei, dass sie sich zu sehr der SPD und den Grünen "angedient" habe, meint Aßmann. "Man muss auch etwas verändern wollen und nicht nur die ganze Scheiße mittragen." (Florian Niederndorfer aus Berlin, 5.10.2021)