"Scharlatanerie": So hat Werner Kogler vor zehn Jahren als Oppositionspolitiker Pläne für eine Steuersenkung ohne Gegenfinanzierung genannt. Der Schuldenstand Österreichs ist heute höher als damals, dennoch vertritt der Grüne als Vizekanzler mittlerweile das Gegenteil von dem, was er damals verteufelte: Die von der Regierung beschlossene "größte Entlastung der Zweiten Republik" wird die Steuer- und Abgabenquote nach unten drücken.

Um Applaus muss die türkis-grüne Koalition nicht bangen. Zu verlockend klingt in den Ohren der Bürger die Verheißung, künftig mehr Geld auf dem Konto zu haben. Doch ist eine breite Steuersenkung auch das, was die Gesellschaft derzeit am dringendsten braucht?

Jede Menge Geld wird die öffentliche Hand benötigen, um den Pflegenotstand zu beheben.
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Es gibt Punkte im Programm, die legen als Antwort ein eindeutiges Nein nahe. Für die auf grünen Druck zwar abgespeckte, aber immer noch 700 Millionen teure Reduktion der Körperschaftssteuer für Unternehmen etwa leuchtet angesichts der boomenden Wirtschaft keine andere Begründung ein, als dass die ÖVP ihre Klientel pflegen will. Selbst wenn es ein Defizit an Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit gäbe, wäre dieser Schritt der falsche, weil nicht treffsicher.

Bessere Argumente gibt es für die auf die breite Masse angelegte Senkung der Lohn- und Einkommenssteuer. Tatsächlich beschert die sogenannte kalte Progression Bürgern schleichende Steuererhöhungen, obwohl das Einkommen gemessen an der Teuerung nicht gewachsen ist. Da lässt sich begründen, dass der Fiskus diese heimlichen Mehreinnahmen wieder zurückzahlen soll.

Schwarzes Loch

Allerdings hat der Staat auch zusätzliche Mittel nötig, um wichtige Leistungen in vernünftiger Qualität anbieten zu können – denn da hapert es an vielen Ecken und Enden. Jede Menge Geld wird die öffentliche Hand benötigen, um den Pflegenotstand zu beheben: Wegen bescheidener Bezahlung und aufreibender Arbeitsbedingungen gibt es schon jetzt, vor der großen Alterungswelle, Personalmangel. Immer noch scheitert der Aufstieg von Frauen im Berufsleben vielfach von vorneherein an fehlender Kinderbetreuung, und an den Schulen hat die Corona-Krise brennende Probleme noch einmal verschärft. Längst braucht es mehr Lehrer, Sozialarbeiter, Psychologen und andere Kräfte, um Kinder ohne großen sozialen Rückhalt nicht weiter abzuhängen.

Diese Seite wird im Hype um die "Entlastung" oft ausgeblendet. Von mancher Verschwendung abgesehen, landen Steuern nicht im Schwarzen Loch, sondern in Angeboten, von denen auch die viel beschworenen Leistungsträger der Mittelschicht profitieren. Sicher: Sofern die Eltern gut genug verdienen, um vom Steuerabsetzbetrag in vollem Maße zu profitieren, kann der abermals ausgebaute Familienbonus schon einen Skiurlaub mit Kind und Kegel finanzieren. Doch die Rechnung sieht anders aus, wenn Familien daran scheitern, eine angemessene Betreuung für die Großeltern aufstellen, oder sich guten Gewissens nicht mehr trauen, ihre Kinder wegen der dortigen Schwierigkeiten in die nächste öffentliche Schule zu schicken.

Trotz Wachstums und niedriger Zinsen auf Schulden sind die staatlichen Mittel nicht unerschöpflich. Steuersenkungen in dieser Breite und diesem Tempo lassen befürchten, dass einmal mehr bei Investitionen geknausert wird. Diese wären auf lange Sicht für die Allgemeinheit aber wertvoller als die ständig propagierte, aber trügerische Entlastung. (Gerald John, 4.10.2021)