STANDARD: Schiller sagt: "Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar." Haut es mit der Liebe nicht hin, nützt auch das protzigste Loft auf Dauer nichts. Wie viel Wohnraum benötigen wir wirklich?

Van Bo Le-Mentzel: Das lässt sich vortrefflich mit den Worten des Berliner Dichters Christian Morgenstern beantworten: "Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird." Ein Paar kann sowohl in einem Zelt als auch in einem Schloss glücklich oder unglücklich sein. Das hat nichts mit Quadratmetern, sondern mit Rückzugsmöglichkeiten oder Zugang zu Gemeinschaft zu tun.

Architekt Van Bo Le-Mentzel.
Foto: Philipp Obkircher

STANDARD: Quadratmeter stehen immer noch für Prestige, das muss sich wohl besonders in den Städten ändern. Wie bessert man das Image der Minibude auf?

Bo Le-Mentzel: Es kommt auf die kulturelle Deutung von Wohnraum an. In London, Manhattan oder Paris haben kleine Wohnungen gar kein schlechtes Image. Lage und Fassade sind die neuen Statussymbole. Klein ist gut! In Berlin und München beobachte ich, dass es ganz schön dekadent wirkt, wenn sich ein Single eine Dreizimmerwohnung gönnt. Neben Flight-Shaming sollte es auch Room-Shaming geben, für Menschen mit übermäßigem Wohnraumkonsum.


Das "Tiny 100" bietet auf weniger als sieben Quadratmetern Platz zum Schlafen, Arbeiten und eine Dusche.
Foto: Philipp Obkircher

STANDARD: Stararchitekt Rem Koolhaas sagte, er wohne in Rotterdam auf 40 Quadratmetern: "Das bietet maximale Konzentration. Ich bin nicht der typische Sammler und besitze nicht viele Dinge. Also gibt es keinen Bedarf für mehr Raum." Wie sehen Sie den Besitz von Dingen?

Bo Le-Mentzel: Ein wohlhabender weißer Mann ist hier sicher nicht die Referenz für die Fragen nach sozialen Wohnraumstandards. Wir sollten eher die alleinerziehende Afghanin mit Baby fragen, wie Räume aussehen sollten. Sie wird vermutlich antworten: keine Einzimmerwohnung, sondern zwei abschließbare Räume mit Gemeinschaftszimmer, wo sie sich mit einer anderen Single Mom die Betreuung teilen kann, in einer Gegend, wo sie Jobs findet und wegen ihres Aussehens keiner Gefahr ausgesetzt ist. Es müssten auch Grünflächen barrierefrei in der Nähe sein. Und das Ganze darf nicht mehr als ein Drittel des Verdienstes kosten. Die Größe der Zimmer ist nicht entscheidend.

STANDARD: Ihr "Tiny 100"-Häuschen umfasst Dusche, Schlafkoje und Arbeitsplatz auf 6,4 Quadratmetern. So viel Wohnraum kostet in Berlin circa 100 Euro. Die Hütte klingt kleiner, als sie wirkt. Trotzdem: Ist das nicht eine Utopie?

Bo Le-Mentzel: Die sogenannte 100-Euro-Wohnung ist ein Rückzugsraum mit Singleküche und Bad und Teil eines Gemeinschaftshauses, wo es in der Mitte der Etage ein großes Gemeinschaftszimmer mit Küche, Eckcouch und Esstisch gibt. Dieser Ausgleich ist sehr wichtig, ansonsten wird man in seinem kleinen Zimmer verrückt werden. Der Haustyp "Co-Being House" ist als Idee gar nicht so neu oder utopisch. In Weimar hat vor hundert Jahren Bauhausstudent Georg Muche ein Haus mit großem Gemeinschaftszimmer in der Mitte und kleinen Zimmern drum herum gebaut. Hundert Jahre davor sind in Istanbul Wohnhäuser gebaut worden mit einem zentralen Gemeinschaftszimmer: dem Sofaraum. Ich möchte daran erinnern, dass wir in der Wohnungsbaukultur schon einmal weiter waren als heute.

STANDARD: Wie wohnen eigentlich Sie?

Bo Le-Mentzel: Meine Frau und ich wohnen mit zwei Kleinkindern in einer Zweizimmerwohnung auf 56 Quadratmetern. Ohne Balkon, Badewanne, Keller und Auto. Kürzlich haben wir in der Küche ein Schlafloft eingebaut. Wir spielen mit dem Gedanken, eines der beiden Zimmer zu dritteln. Dann hätten unsere Kinder je ein eigenes kleines Fünf-Quadratmeter-Zimmer. Jetzt wissen Sie, wo die Ideen für meine Entwürfe herkommen.

STANDARD: Was ist bei der Gestaltung und Einrichtung eines Tiny Houses oder einer Mini-Wohnung wichtig? Auf jeden Fall sollte man erst einmal ausmisten, oder?

Bo Le-Mentzel: Ich nutze bei meinen Entwürfen einen visuellen Trick. Es geht darum, dass das Gehirn nicht auf den ersten Blick den Wohnungsgrundriss erfassen kann. Das bedeutet, möglichst in die Mitte der Etage eine Wand oder große Möbel setzen, sodass man immer Lust hat, in die Ecke zu blicken. Das ist der Grund, warum eine große Halle, wo alles auf einem Blick erfassbar ist, kleiner wirkt als ein Supermarkt oder eine Moschee mit einem Säulengang, obwohl die viel kleiner sind. Ausmisten ist nicht nur gut für die Psyche, sondern auch für die Umwelt.

STANDARD: In den letzten Jahren hatte das Thema Tiny House eine unglaubliche Medienpräsenz. Ist das bloß eine Modeerscheinung, oder hilft diese Entwicklung wirklich bei der Beschaffung von Wohnraum?

Bo Le-Mentzel: In Deutschland gibt es ja schon länger Tiny Houses, wir nannten sie nur anders: Bauwagen, Wohncontainer, Schrebergartenlaube oder Wohnmobil. Klar, Tiny Houses auf Rädern mit viktorianischem Dach und Veranda sind eine Modeerscheinung. Aber sie helfen uns zu fragen, ob Wohlstand auch unabhängig von Größe denkbar ist. Während Kapitalistinnen und Minimalistinnen propagieren, dass die Größe entscheidend ist, behaupte ich, dass die sozialen Bindungen das Wohnglück ausmachen. Dazu muss eine Nachbarschaft aber vor allem eines sein: divers. Junge und Alte, Rechte und Linke, Reiche und Arme, Gesunde und Kranke, Laute und Leise gehören alle in einen Wohnblock! Homogene Nachbarschaften sind der Beginn von Stillstand.

STANDARD: Wo liegt die Zukunft urbanen Wohnens?

Bo Le-Mentzel: Wir bei der Tiny Foundation kommen immer wieder zu dem gleichen Schluss: Die Stadt der Zukunft muss noch viel mehr ineinander verschachtelt gedacht werden, um unversiegelte Naturgebiete unberührt zu lassen. Das heißt: Schrebergärten mit Tiny Houses nicht neben Ikea, sondern auf das Dach. Wohnhäuser und Kindergärten nicht neben das Fabrikgebäude, sondern auf das Dach. In Brandenburg und am Flughafen Tegel entgehen uns leider große Chancen. Dort entsteht die größte Tesla-Fabrik Europas und auf der ehemaligen Landebahn Fabrikhallen. Wer Arbeiten vom Wohnen trennt, produziert Pendlerinnen. Die Jahrhundertaufgabe für uns Stadtplanerinnen wird es sein, das Pendeln überflüssig zu machen. Wir nennen das Circular City. (Michael Hausenblas, RONDO, 13.10.2021)