Daniela Unterholzner berichtete von den vielen Gesichtern der Obdachlosigkeit.

Foto: Roland Rudolph

Die meisten Menschen tragen so gut wie immer einen Schlüsselbund mit sich herum, an dem sich zumindest ein Schlüssel befindet: jener, der die Tür zum eigenen Zuhause aufsperrt. "Für uns ist das eine Selbstverständlichkeit. Aber für viele Menschen ist das unerreichbar", sagte Daniela Unterholzner, Geschäftsführerin von Neunerhaus. Das Unternehmen unterstützt obdachlose Menschen mit Wohnraum. Vor wenigen Tagen war Unterholzner Speakerin bei der Immobilienveranstaltung "The Real 100", die nach 20 Monaten Corona-bedingter Zwangspause erstmals wieder stattfand.

22.031 Menschen sind in Österreich laut den letzten verfügbaren Daten obdachlos – das entspricht einer ganzen Kleinstadt voller wohnungsloser Menschen, sagte Unterholzner. Obdachlosigkeit habe viele Gesichter: Viele hätten dabei sofort einen alten Mann mit Rauschebart und Alkoholproblem vor Augen. Unterholzner berichtete aber auch von jungen Frauen, die nach einer Vergewaltigung mit 14 zu Hause auszogen und seither von Couch zu Couch wandern. Oder von Busfahrern mit psychischen Problemen, die es irgendwann nicht mehr aus dem Bett und in die Arbeit schaffen und dann ihren Job und die Wohnung verlieren.

Selbstständiges Wohnen

Für sie alle brauche es mehr leistbaren Wohnraum, so Unterholzner. Viele Armutsgefährdete müssen mit maximal 950 Euro pro Monat auskommen. Angesichts der in den letzten Jahren stark gestiegenen Mieten sei Wohnraum mit diesem Budget fast nicht mehr zu finden. Besonders für junge Menschen werde leistbarer Wohnraum – beziehungsweise der Mangel daran – zum immer größeren Thema.

Unterholzner brach eine Lanze für selbstständiges Wohnen. Dafür brauche es auch bauliche Voraussetzungen. Dass man eigene Häuser für Obdachlose baut, sei längst überholt. "Was Wohnungslose nicht brauchen, sind abgetrennte Gemeinschaftsräume, Eingänge und Trakte", sagte sie.

Quote für den freifinanzierten Wohnbau

Stattdessen brauche es auch in freifinanzierten Wohnhäusern Platz für sie, eine Quote von etwa zehn Prozent pro Wohnhaus würde ihrer Ansicht nach gut funktionieren. Aber dafür brauche es Partner, sagte Unterholzner und richtete sich direkt an die versammelten Branchenvertreter.

Die Corona-Krise wird sich auf Wohn- und Obdachlosigkeit auswirken – allerdings, wie Unterholzner vermutet, mit zeitlicher Verzögerung. Aktuelle Zahlen gebe es derzeit noch nicht. Wegen gesetzlicher Delogierungsstopps sei im Vorjahr die Wohnungslosigkeit wohl sogar zurückgegangen. Seit einigen Monaten befürchten Mieterschützer und Mieterschützerinnen aber einen sprunghaften Anstieg der Delogierungen.

Schleichender Anstieg befürchtet

An eine große Delogierungswelle glaubt Unterholzner nicht. Sie befürchtet aber einen langsamen Anstieg der Wohnungslosigkeit über die nächsten drei bis vier Jahre. Das sei fast noch problematischer: "An Corona als Aus- löser wird dann niemand mehr denken", sagte sie. Stattdessen werde die Schuld wieder bei den Individuen gesucht und auf die strukturellen Probleme vergessen. (zof, 5.10.2021)