Es gab dann, kurz nach Mittag, diesen einen Moment, in dem ein einziges Foto alles erzählt hätte. Und das man genau deshalb nicht macht. Weil der Moment zu persönlich ist – obwohl eh alles okay war.

Ilse Dippmann saß letzten Sonntag einfach da. Allein an einem der Tische im Backstage-Bereich des Frauenlaufs. Ich sah, wie die Anspannung von ihr abfiel: Miene, Körperspannung, Körperhaltung – alles zeugte von Erleichterung, aber auch von Müdigkeit. Gleichzeitig – für zwei oder drei Sekunden.

Minuten davor hatte sie, hier im Bild, noch Charity-Schecks (hier etwa an Thomas Krejci vom Lauf-Entwicklungs-Hilfe-Projekt Run2Gether) überreicht. Stark und selbstbewusst. So wie immer. So, wie man die Erfinderin des Österreichischen Frauenlaufes kennt.

Ich war froh, beide Bilder gesehen, aber nur eines geschossen zu haben.

Obwohl beide wichtig sind.

Foto: Tom Rottenberg

Zwei Tage zuvor, am Freitag, hatte Ilse Dippmann zur Pressekonferenz geladen. Letzte Infos. Sponsorenstreicheln. Vorstellung der Favoritinnen. Das Pflichtprogramm. Dort hinzugehen ist eher der Höflichkeit als einer Geschichte geschuldet.

Dass Dippmann und ihr Partner Andreas Schnabl da erzählten, wie mühsam und wirtschaftlich bedrohlich die letzten eineinhalb Jahre waren, wie die sich stets ändernden Corona-Regeln sie dann eine knappe Woche vor der Veranstaltung noch einmal vor organisatorische Mega-Hürden gestellt hatten, überraschte mich nicht.

Die Ansage, dass die beiden da knapp davor gewesen seien, das Handtuch zu werfen, den Lauf also in allerletzter Sekunde abzusagen, hielt ich (so wie fast alle Kolleginnen und Kollegen vor Ort) für Koketterie.

Am Sonntag, als ich sah, wie all dieser Ballast von Dippmann abfiel, erkannte ich aber: Das war keine PR-Wuchtel – sondern einfach nur ehrlich gewesen. Wow.

Foto: Tom Rottenberg

Zu sagen, dass ich den Frauenlauf mag, wäre eine Untertreibung. Das war schon so, bevor ich – 2017 – als Last-Minute-Begleitläufer einer blinden Athletin sogar offiziell mitlaufen durfte.

Obwohl ich da als Mann wirklich nicht dazugehörte, spürte ich das, was in Frauenlauf-Erzählungen als "gemeinsame Energie" immer beschworen wird – aber bei Unbeteiligten kaum bis gar nicht rüberkommt.

Gemeinsames Laufen schafft Gemeinschaft. No na: Das ist eine Binsenweisheit. Gemeinschaft entsteht schließlich auch durch gemeinsames Kaffeetrinken.

Aber Kaffeetrinken ermächtigt halt nicht. Laufen schon. Sobald man (ebenso wie frau) etwas tut, das in dieser Form, in dieser Selbständigkeit davor nicht Alltag war, hat das Folgen. Es wächst: Aus dem konkreten "Ich kann das" wird bei richtiger Hege & Pflege rasch ein allgemeineres "Ich kann was". Und das ist gut so.

Foto: Barbara Strolz

"Hege & Pflege" heißt, dass das Setting ansprechend ist. Wenn man – also frau – in einem Umfeld wächst, das passt. Das Spaß macht. Das nicht zu weit von jener Wirklichkeit beginnt ist, in der man oder frau sich sonst bewegt.

Egal wie klischeehaft diese Wirklichkeit sein mag.

Der Clou am Frauenlauf ist, hier genau den Punkt zu treffen – auch und weil hier manchmal bewusst mit Unschärfen, vermeintlichen Widersprüchen und Vermischungen gearbeitet wird.

Foto: Barbara Strolz

Denn natürlich wäre es lächerlich, erfahrene oder ehrgeizige Läuferinnen mit der legendären (heuer Corona-bedingt nicht erreichten) Größe des Frauenlauf-Startersackerls locken zu wollen.

Auch Frauen, die in feministischer Theorie so sattelfest sind wie in Fragen von Kampfrhetorik oder Gender- und Pronomenschreibvorschriften brauchen sicher keine Einkaufstasche voller PR-Samples, Hygieneprodukte oder Frühstücksflocken.

Nur: Um die geht es auch nicht. Sportlich und/oder politisch starke Frauen brauchen den Frauenlauf wirklich nicht (auch wenn sie aus Solidarität oft trotzdem kommen).

Den Lauf brauchen andere aber sehr wohl: Frauen, die (noch) nicht so weit sind.

Foto: Barbara Strolz

Und die abzuholen schafft Ilse Dippmann sehr gut:

Der Mix aus Goodies, Haarstyling- und Kosmetiklounge, Zumba-Party auf der Festwiese und fundiertem Training mit Staatsmeisterinnen und Klasseläuferinnen in den Wochen davor funktioniert.

Die vermeintlich schlichte Hashtag-Botschaft "We Run To Move" wird als lose drübergezuckertes Lifestyle-Topping halt mitserviert. Und aufs Laufshirt gedruckt.

Frauen in meinem Umfeld monieren da gerne, dass das "oberflächlich" und "unkonkret" sei. Sie hätten gerne klarere, "politischere" Ansagen. Andere verwahren sich dagegen, für Sport ins "Frauenghetto" zu gehen: "Wir brauchen keine geschützten Werkstätten."

Stimmt: Diese Frauen brauchen derlei tatsächlich nicht.

Aber es gibt eben auch die anderen.

Foto: Barbara Strolz

In deren Selbstverständnis und Alltag wird dann manchmal schon Dippmanns niederschwelliges Bisserl fast zur Revolution. Ja, leider immer noch. Manchmal riechen das Männer noch vor "ihren" Frauen, Töchtern oder Schwestern: Sie können es zwar meist nicht artikulieren, spüren aber, was passiert. Oder dass etwas passiert.

Es käme vor, sagte mir einmal eine mit Frauengruppen außerhalb Ilse Dippmanns Universum laufende Trainerin, dass ihr Frauen nach ein paar Laufeinheiten sagten, sie würden bald nicht mehr zu einem Lauftreff kommen, weil ein Mann, Vater oder Bruder das nicht mehr erlaube.

Es käme auch vor, dass Männer "ihre" Frauen beim Training "abliefern" und wieder abholen: Den Unterschied zwischen liebevoll-gewollt und oppressiv erkenne jeder. Und spüre jede. Nach dem dritten oder vierten Mal blieben diese Frauen dann meist weg.

Aber: Nein, das beträfe längst nicht ausschließlich Frauen mit konservativ-muslimischem Hintergrund.

Foto: Österr. Frauenlauf/Diener

Der Frauenlauf funktioniert dann als Signal aber sogar für die, die nicht dabei sind: "We Run To Move" auf 15.000 T-Shirts – da bleibt etwas hängen. Hoffentlich.

Doch der Frauenlauf ist auch ganz abseits seiner Botschaft eine grandiose und gut organisierte Laufparty. Eine, von der sich andere Veranstalter einiges abschauen könnten.

Nicht zwingend, wenn es um die Abwicklung rein sportlicher Aspekte geht, aber sehr wohl beim Drumherum – dem Gefühl, als Teilnehmerin willkommen zu sein.

Nein, mit Inhalt oder Größe von Goodiebags hat das nichts zu tun.

Auch nicht mit Bewerbsgrößen oder Streckenlängen.

Es geht um etwas Anderes. Darum, Menschen das Gefühl zu geben, nicht nur Kunde oder Kundin, sondern tatsächlich wertgeschätzt zu sein. Das ist lediglich eine Frage des Wollens. Des Wollens der Veranstalter.

Foto: Tom Rottenberg

Eine dieser "Will ich das"-Fragen, mit denen man Gefühle aufbaut und Bindung schafft, ist die der Finishershirts: Der Frauenlauf ist in Wien, in Österreich das ganze Jahr optisch präsent. So wie der Wings-for-Life-Lauf auch. Frauenlaufshirts können viele auf den ersten Blick einem bestimmten Laufjahr zuordnen.

Die Trägerinnen sind stolz, nicken einander auf den Laufstrecken verschwörerisch zu und haben sofort etwas Verbindendes. Zueinander – und zur Veranstaltung.

Ich bin zwar kein Marketingmensch, aber dass das mehr bringt, als es kostet, klingt naheliegend.

Man muss es halt wollen.

Foto: Tom Rottenberg

Wieso ich das hier ausbreite? Für Barbara war es der erste Frauenlauf. Drei Wochen nach ihrem Halbmarathondebut in Wien war es nur naheliegend, dass sie verglich. Und prompt kamen genau jene Punkte, die auch von anderen immer kommen: Atmosphäre, Platzangebot und Begleitprogramm-Möglichkeiten etwa. Klar ist eine Wiese mit U-Bahn-Anschluss bei Schönwetter da feiner als eine abgelegene Messehalle.

Aber dann kam schon die Dichte in den Startblöcken und ihre Einteilung. Auch ob und wie Wartezeiten auf den eigentlichen Start überbrückt werden, liegt im Einflussbereich der Veranstalter: Volksläufe sind Volksfeste – was da am Anfang (nicht) passiert, prägt die Stimmung bis zum Schluss.

Foto: Barbara Strolz

Und obwohl die Blockzuteilung beim Frauenlauf allem Anschein nach nicht wirklich streng nach Tempo oder zu erwartenden Zielzeiten erfolgte, war das Gedränge auf der Hauptallee dann nicht nur weniger verbissen, sondern amikal – aber vor allem "im Rahmen": Wer vorher gemeinsam beim Warm-up gelacht hat, läuft fröhlicher und höflicher. Und vielleicht ja auch mit mehr Struktur und realistischer Selbsteinschätzung.

Erst recht, wenn es "Pacerinnen" gibt, also vom Veranstalter gestellte Läuferinnen, die einem das leidige Rechnen und das Tempohalten abnehmen.

Pacer (oder -innen) gehören ja nicht ohne Grund zum Standardservice gut, im Sinne von kundinnen- und kundenfreundlich, organisierter Läufe.

Foto: Tom Rottenberg

Als "ganz anders als beim VCM", weil "lustig, abwechslungsreich und absolut toll", wurde aber nicht nur die Kollegialität auf, sondern auch die Stimmung entlang der Strecke wahrgenommen: Viel Publikum gibt es an Wiener Laufstrecken ja nie. Von den 130 Bands, die angeblich in Berlin am Streckenrand spielen, ist Wien mindestens eine Zehnerpotenz weit weg. Nur: Trommler, Soundsysteme und Bands wurden beim Frauenlauf schon, beim Stadtmarathon dagegen kaum wahrgenommen.

Wieso? Keine Ahnung: Beim VCM wird nämlich sehr wohl betrommelt und beschallt – aber halt nicht dort, wo das "Fußvolk" Aufmunterung und Ablenkung braucht oder bemerkt: Vor der Oper (dort ist eine Bühne) schauen nämlich alle zur Oper – aber auf der Wienzeile frisst einen dann die Einsamkeit.

Foto: Tom Rottenberg

Zieleinlauf? Da halten einander die beiden großen Wiener Läufe die Waage. Ein "Theater der Emotionen" ist der Schlussakkord nämlich in jedem Fall.

Nach dem Frauenlauf-Ziel gibt es für die Teilnehmerinnen zuerst Medaillen. Dann Blumen. Dann Wasser.

Die Flaschen haben Verschlusskappen. Der Verdacht, irgendjemand könnte mit einer verschlossenen Flasche draussen Handel treiben wollen, wurde hier noch nie geäußert. Anderswo schon.

Und dann? Wie geht es weiter? Vorhang zu, Licht aus – und nur ja keine Einladung zum Verweilen aussprechen? Oder bietet man Zeit und Raum, die Möglichkeit, den Erfolg zu genießen und gemeinsam zu feiern? Auch wenn man nicht zu den geladenen (oft eh nicht laufenden) Gästen in Firmen- oder VIP-Zone gehört?

Foto: Tom Rottenberg

Denn draußen, hinter – respektive vor – der Finisherzone, warten nun Freunde und Verwandte. Und mit denen geht man dann auf die Festwiese (aka "Stadionparkplatz") feiern.

Etwa um auch bei Siegerehrungen mit dabei zu sein. Die finden auf der großen Bühne statt – und zwar für alle. Für die großen Namen genauso wie für die regionale Schulgruppenwertung aus Hintertupfing.

Stimmt: Mit dem Laufen, der Sportveranstaltung, hat all das nichts mehr zu tun – mit dem "Theater der Emotionen" umso mehr.

Und mit der Frage, ob man bei etwas wieder dabei sein will.

Barbara brachte es – ungefragt – auf den Punkt: "Eigentlich dachte ich nach dem VCM, ich laufe nie wieder einen Bewerb. Aber der Frauenlauf wird wohl ein Fixtermin."

Foto: Tom Rottenberg

Ich schaute zum Nachbartisch. Dort hatte sich Ilse Dippmann gerade hingesetzt. Sie atmete tief durch – und ich sah, wie der Ballast und die Anspannung von eineinhalb Jahre von ihr abfielen.

Als sie aufblickte, sah sie herüber. Zwei Sekunden später war sie an unserem Tisch. Umarmte Barbara, gratulierte, lachte und strahlte: "Na, Babs, wie war dein erster Frauenlauf?"

Barbara strahlte zurück. Und ich war ein bisserl neidig. (Tom Rottenberg, 5.10.2021)


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Foto: Tom Rottenberg