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Die Gefühle des Kindes ernst nehmen: das ist eine Grundlage der bedürfnisorientierten Erziehung, sagt die Psychologin Astrid Pintzinger.

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In den vergangenen Jahren ist ein neuer Begriff aufgetaucht: bedürfnisorientierte Erziehung. Er begegnet uns immer öfter im Alltag – auf Spielplätzen, in Gesprächen mit anderen Eltern, auf den Titelseiten von Ratgebern. Und in etwa genauso häufig werden Stimmen laut, die dahingehend Sorgen äußern. Es heißt dann: "Ich kann doch nicht immer Ja sagen!" oder "Ich will nicht, dass das Kind bestimmt, wo es lang geht!" Es sind auch Sätze zu hören wie: "Mein Kind soll nicht immer alles bekommen!", "Ich kann nicht immer Verständnis haben!" oder "Ich möchte mir nicht auf der Nase herumtanzen lassen!"

Viele Eltern haben Bedenken, ihr Kind könnte im Rahmen einer bedürfnisorientierten Erziehung machen, was es will – ohne Regeln, ohne Grenzen. Sie denken, es geht darum, dem Kind jeden Frust zu ersparen. Über dem Begriff "bedürfnisorientiert" schwebt ein Schatten: das Wort "Ja". Ein ständiges Ja zum Kind und zu seinen Bedürfnissen. Sich stets danach zu richten klingt anstrengend und auslaugend. Wo bleiben dabei die eigenen Bedürfnisse? Was, wenn es mehrere Kinder gibt? Wie soll ich es schaffen, alle Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen? Und dann ist da noch die Sorge, wie das Kind später im Leben zurechtkommt, wenn man sich immer nach ihm richtet. Dass es zur selbstsüchtigen Tyrannin, dem verhaltensauffälligen Tyrannen wird.

Sind diese Befürchtungen gerechtfertigt? Ist es wirklich so, dass bei der bedürfnisorientierten Erziehung die Bedürfnisse der Eltern auf der Strecke bleiben? Das möchte ich in meinem Beitrag näher beleuchten. Aber zunächst ein kleiner Exkurs zu den Theorien, auf denen der sogenannte BO-Ansatz basiert.

Bedürfnisse als Grundlage

Die Grundlage des BO-Modells ist ein Menschenbild, in dem der Mensch von Geburt an als soziales Wesen mit unterschiedlichsten Bedürfnissen gesehen wird, das in seiner Entwicklung begleitet werden soll und durch Nachahmung lernt. Und das beinhaltet mehr als den erzieherischen Umgang mit dem Kind. Es ist eine grundlegende Haltung dem Menschen gegenüber.

Laut dem US-Psychologen Abraham Maslow sind die essenziellsten aller Bedürfnisse physiologischer Natur: Essen, Trinken und Schlafen. Werden sie nicht befriedigt, ist es nicht möglich, zu überleben. Müdigkeit oder Hunger führen zu Unkonzentriertheit, mangelnder Kooperationsfähigkeit, Dünnhäutigkeit. Essen und Rasten sind also die Grundlage, um überhaupt lebensfähig zu sein. Ebenso bedeutsam ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Wir Menschen brauchen Ruhe, Geborgenheit, Nähe – einen sicherer Hafen, in den wir in turbulenten Zeiten immer wieder zurückkehren können. Wir brauchen einen Rückzugsort, eine Person zum Anlehnen, einen Ort zum Ankern.

Das Streben nach Autonomie ist auch so ein Bedürfnis. Es zeigt sich bei Kindern vor allem im Laufe der ersten Lebensjahre. Der Wunsch, alles selbst machen zu wollen, geht oft einher mit großen Gefühlsausbrüchen, wenn etwas nicht nach den Vorstellungen des Kindes verläuft, etwas (noch) nicht klappt oder von den Eltern unterbunden wird. Frustration, Wut, Ärger sind die Folge. Kinder werfen sich auf den Boden oder mit Gegenständen um sich. Kaum eine andere Entwicklungsphase ist für Eltern herausfordernder als diese sogenannte Autonomiephase. In der Blüte der motorischen Entfaltung, inmitten der sprachlichen Entwicklung zeigen Kleinkinder ihre unbefriedigten Autonomiebedürfnisse oftmals durch starke Gefühle.

Nur die Spitze des Eisbergs

Der Ansatz der bedürfnisorientierten Erziehung geht davon aus, dass jedes Verhalten nur die Spitze des Eisbergs ist. Es wird ausgelöst durch Gefühle wie Wut, Angst, Trauer, Schmerz, Freude oder Stolz. Diese Gefühle, so die Annahme, beruhen maßgeblich auf Bedürfnissen – etwa nach Anerkennung, Sicherheit, Liebe, Zugehörigkeit und Freiheit. Wer diesen Bedürfnissen Beachtung schenkt, könne besser verstehen, wieso sich ein Kind gerade so verhält.

Hier ein Beispiel, um zu zeigen, was das für den Alltag bedeutet: Wenn sich das zweijährige Kind auf den Boden wirft und wild um sich tritt, ist es laut dem BO-Konzept zunächst wichtig, das Gefühl hinter dem Verhalten zu erkennen. Dann geht es darum, einen Blick auf die möglichen zugrundeliegenden Bedürfnisse zu werfen. Ist das Kind wütend, weil es sich ausgeschlossen fühlt (Bedürfnis nach Zugehörigkeit)? Ist es traurig, weil niemand seinen tollen Sprung von der Couch kommentiert hat (Bedürfnis nach Anerkennung)? Hat es Angst, weil die Mama gedroht hat, einfach zu gehen, wenn es jetzt nicht mitkommen will (Bedürfnis nach Sicherheit)?

Die Annahme ist: Indem sich Kinder in ihren Gefühlen gesehen fühlen, diese ernst genommen und begleitet werden, erlangen sie nach und nach emotionale Kompetenz. Die ist wiederum wichtig, um eigene Gefühle und schlussendlich auch die der anderen erkennen und verstehen zu können, also Empathie zu entwickeln. Außerdem geht es maßgeblich um die Fähigkeit, eigene Emotionen gut selbst regulieren und ihnen nicht mehr ausgeliefert zu sein. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation spielt in weiterer Folge für den jeweiligen Lebensweg des Kindes eine wesentliche Rolle. Sie ist eine der wichtigsten Lebenskompetenzen.

Alle Bedürfnisse sind wichtig

Ein wesentlicher Bestandteil des Modells ist es auch, die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu berücksichtigen, also auch die der Eltern. Ein "Ja" zu dem, was man selbst braucht und möchte, gehört also ebenso dazu. Auch Mütter und Väter sollten sich fragen, wie sie sich Zeit für sich selbst freischaufeln können. Wie sie zwischendurch ihre Hobbys ausüben können, einen Freund oder eine Freundin treffen, laufen gehen oder Zeitung lesen können.

Dass nicht immer alle Bedürfnisse miteinander vereinbar sind, ist nur logisch. Wenn es zu so einer Situation kommt, müssen Prioritäten gesetzt und Kompromisse gemacht werden. Es kann auch mal sein, dass das Kind frustriert ist, wenn die Bedürfnisse seiner Eltern im Moment Vorrang haben. Aber auch das ist laut dem BO-Ansatz okay – für Kinder sei es wichtig, ihr gesamtes Gefühlsspektrum zu erkennen.

Es geht bei der bedürfnisorientierten Erziehung also nicht darum, dem Kind jeglichen Frust zu ersparen. Sondern darum, seine Gefühle zu erkennen und anzuerkennen – und es in weiterer Folge in seinen Emotionen zu sehen und ernst zu nehmen. Nur so können Kinder später adäquate Strategien entwickeln, die eigenen Gefühle zu regulieren, so die Theorie.

Statt Sätzen wie "Führ dich nicht so auf!" oder "Wenn du jetzt nicht aufhörst zu schreien, gehe ich", sollen folgende Sätze verwendet werden: "Ich verstehe, dass du dich darüber ärgerst" oder "Ich bin da, wenn du Trost brauchst". Zu einer bedürfnisorientierten Erziehung gehört auch, mit dem Kind auf Augenhöhe zu sein und respektvoll mit ihm umzugehen. Das alles soll ihm ermöglichen, seine Gefühle kennen und verstehen zu lernen – und später im Leben empathisch, selbstbestimmt und verantwortungsvoll zu handeln. (Gastbeitrag: Astrid Pintzinger, 7.10.2021)