Am 23. September 1964 betrat der amerikanische Archäologe Siegfried Horn das Kunsthistorische Museum in Wien, um gemeinsam mit dem damaligen Direktor Egon Komorszinski eine Sammlung von Keramikgefäßen und Bronzewerkzeugen zu begutachten, zu der in den Archiven des Museums keinerlei Unterlagen existierten. Nach einigen Recherchen war klar: Dieses Inventar stammte von den letzten österreichischen Ausgrabungen in Palästina, die 1913 und 1914 am Vorabend des Ersten Weltkrieges durchgeführt wurden.

Tagebucheintrag von Siegfried Horn vom 23. September 1964.
Foto: Center for Near Eastern Archaeology, La Sierra University, Riverside, CA, USA [https://lasierra.edu/cnea/]

Ein Zufallsfund in Palästina

Wenige Jahre zuvor hatten Bauern am Tell Balata (dem biblischen Sichem), nahe des heutigen Nablus in Palästina, mehrere Waffen aus Bronze gefunden. Der Theologe Ernst Sellin, der zu dieser Zeit für die Deutsche Orient-Gesellschaft am Tell es-Sultan (dem biblischen Jericho) Ausgrabungen durchführte, konnte diesen Zufallsfund ein Jahr später in Jerusalem in Augenschein nehmen. Wenig später erwarb der Ägyptologe und Mäzen Friedrich Wilhelm Freiherr von Bissing diesen Fund für seine Privatsammlung und regte an, am Tell Balata eine archäologische Ausgrabung zu unternehmen.

Topografische Karte des Heiligen Landes.
Foto: Mario Börner/ÖAW
Das Sichelschwert vom Tell Balata (Sichem) aus der Sammlung Bissing.
Foto: Staatliches Museum Ägyptischer Kunst, München/Marianne Franke (https://smaek.de/)

Ernst Sellin und die Akademie der Wissenschaften

1911 richtete Ernst Sellin ein Gesuch an die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien, um für diese Ausgrabung zu werben. Sellin, geboren 1867 in Alt Schwerin in Mecklenburg, war zu dieser Zeit in Wien kein Unbekannter. Von 1897 bis 1908 war er Professor an der evangelisch-theologischen Fakultät in Wien. Während dieser Zeit hatte er schon Ausgrabungen in Palästina geleitet, die von der Akademie und weiteren Mäzenen aus der Wiener Gesellschaft gefördert worden waren, bevor er 1908 einen Ruf an die Universität Rostock annahm.

Porträt von Ernst Sellin.
Foto: Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Wien (https://etf.univie.ac.at/)

Nach längeren Verhandlungen entschloss sich die Akademie die Ausgrabungspläne Sellins mit 20.000 Kronen zu fördern, stellte aber die Bedingung, dass er aus anderen Quellen zumindest 10.000 Kronen aufzubringen hätte. Auch darin hatte Sellin bereits Erfahrung und er konnte wie bei seinen früheren Grabungen wieder auf Gönner aus der Wiener Gesellschaft zurückgreifen. So beteiligte sich beispielsweise der im österreichischen Exil lebende Ernst August II. von Hannover Herzog von Cumberland an den anfallenden Kosten, genauso wie die Industriellen Philipp und Paul von Schoeller sowie Arthur Krupp. Auch Anton Dreher, der als "Wiener Braukaiser" das in Klein-Schwechat von seinem Vater erfundene Lagerbier in alle Welt exportierte, gehörte zu den Förderern.

Kostenaufstellung für die Grabung am Tell Balata.
Foto: Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Landau-Widmung, Mappe 5, No. 644/1911 (https://www.oeaw.ac.at/forschung/bibliothek-archiv-sammlungen/archiv-der-oeaw)

Ein holpriger Start

Nachdem Sellin die geforderte Summe erfolgreich aufgetrieben hatte, gab die Akademie die Gelder frei. Im Sommer 1911 brach Sellin von Triest mit dem Österreichischen Lloyd ins Heilige Land auf. Allerdings stand diese Reise unter einem schlechten Stern und man konnte sich mit den Landbesitzern nicht über eine angemessene Pacht einigen. Schließlich musste Sellin erfolglos wieder nach Europa zurückkehren und erst im Dezember 1911 konnte erfolgreich ein Pachtvertrag aufgesetzt werden.

Die Grabung beginnt

Nachdem auch im Jahr 1912 wegen des italienisch-türkischen Krieges und der allgemeinen Sicherheitslage in Palästina keine Grabung möglich war, erreichte Sellin am 7. August 1913 die erleichternde Nachricht, dass die Grabungskonzession erteilt worden sei. Bereits am 15. August reiste Sellin in der Begleitung des Archäologen Camillo Praschniker von Triest ab. Der knapp 30-jährige Praschniker war zu diesem Zeitpunkt Sekretär des Österreichischen Archäologischen Instituts (ÖAI) und sollte in seiner weiteren Karriere sogar zum Direktor des ÖAI aufsteigen.

Ermäßigung des Österreichischen Lloyd für die Reise von Ernst Sellin im Jahr 1913.
Foto: Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Landau-Widmung, Mappe 7, No. 690/1913.

Doch erneut traten Probleme und Verzögerungen auf: Zwar war die Grabungskonzession eingetroffen, doch noch fehlte ein Regierungskommissär, der die Ausgrabungen zu überwachen hatte. Erst nach einigen Telegrammen nach Beirut und Konstantinopel konnte am 4. September endlich mit den Grabungen begonnen werden, die aufgrund der Verzögerungen nur zweieinhalb Wochen währten. Dennoch wurden in dieser kurzen Zeit mit bis zu 100 Arbeitern mehrere Suchgräben durch den Siedlungshügel getrieben, eine zu dieser Zeit nicht ungewöhnliche Methode. Diese ersten Grabungen legten einen Teil der Stadtmauer frei, aber auch mehrere Hausgrundrisse und eine bedeutende Anzahl von Keramikgefäßen und Bronzeobjekten.

Auszug aus dem Fundbuch von Camillo Praschniker.
Foto: Siegfried H. Horn Museum, Andrews University, Berrien Springs, MI, USA (https://andrewsarchaeology.org/)

Gleich nach dem Jahreswechsel begann Sellin die zweite Kampagne nach Sichem auszurüsten. Mitte März 1914 traf Sellin wieder in Nablus ein und musste zunächst erneut mit den Grundbesitzern einen Pachtvertrag aushandeln, da der alte bereits ausgelaufen war. Nachdem dies mit Unterstützung aus Beirut gelungen war, stieß Ende März Praschniker hinzu und es konnte mit der Grabung begonnen werden, die schließlich bis Anfang Mai dauerte. In dieser Kampagne wurde schließlich das Stadttor ausgegraben, außerdem konnten erneut Werkzeuge und Waffen, Silberschmuck und Bronzefibeln, lokale und aus Zypern und der Ägäis importierte Keramik geborgen werden.

Planskizze.
Foto: Camillo Praschniker

Ein vorzeitiges Ende

Wieder zurück in Deutschland informierte Sellin die Akademie am 16. Juni 1914, dass nach Abrechnung aller Auslagen noch eine ausreichend große Summe vorhanden sei, um eine weitere ausgiebige Kampagne im Sommer folgen zu lassen und plante im August 1914 wieder ins Heilige Land aufzubrechen. Dazu kam es nicht mehr. Am 28. Juni wurde der österreichische Thronfolger erschossen und Europa begann zum Krieg zu rüsten. Noch am 16. Juli trafen die üblichen Fahrkarten des Österreichischen Lloyd für Sellin und sein Team ein, doch nur zwölf Tage später erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Der Erste Weltkrieg hatte begonnen.

Unter anderen Vorzeichen: Weitere Grabungen in den 1920er- und 1930er-Jahren

Die politische Landschaft Europas und des Nahen Ostens hatte sich nach dem Frieden von Versailles 1919 und dem Vertrag von Sèvres 1920 fundamental geändert. Das deutsche Kaiserreich war der Weimarer Republik gewichen, Wien war nicht mehr Hauptstadt des Habsburgerreiches, sondern der Republik Österreich und das Heilige Land war nicht mehr Teil des Osmanischen Reiches, sondern wurde vom Völkerbundmandat für Palästina verwaltet, welches dem Vereinigten Königreich übertragen wurde. Erst 1926 konnte Sellin erneut in Sichem Grabungen durchführen. Diese fanden nun nicht mehr als österreichisches Unternehmen statt, sondern standen unter der Trägerschaft des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI).

Das Ende der deutschen Grabungen

Eine letzte Kampagne konnte der mittlerweile 67-jährige Sellin noch im Jahr 1934 durchführen. In den folgenden Jahren hinderte dann die fehlende Finanzierung die Fortführung der Ausgrabung und als 1939 das notwendige Geld beschafft werden konnte, war es wieder ein Krieg, der Sellins Pläne zunichtemachte. Auch die Publikation der Grabungen wurde schließlich Opfer des Krieges: Sellins Manuskript verbrannte mitsamt mehreren Funden im Herbst 1943, als sein Haus in Berlin Opfer eines Bombenangriffs wurde. Sellin sollte den Zweiten Weltkrieg nur knapp überleben – er starb zum Jahreswechsel 1945/1946 in Epichnellen in Thüringen.

Erhaltene Funde und Dokumentation

Heute sind die Funde und die Dokumentation von Sellins Ausgrabungen auf zahlreiche Museen verstreut. Siegfried Horn ist es zu verdanken, dass er die Bestände des Kunsthistorischen Museums in Wien identifizieren konnte. Weitere Bestände befinden sich in Leiden und Jerusalem. Die relevanten Fundbücher und Grabungstagebücher werden heute an der Harvard University und an der Andrews University in Michigan aufbewahrt.

Feldtagebuch "Sichem 1913" geführt von Camillo Praschniker, Seite 2.
Foto: Harvard Museum of the Ancient Near East, Harvard University, Cambridge, MS, USA (https://hmane.harvard.edu/)

Es ist einer Förderung des Holzhausen-Legats der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zu verdanken, dass die Hintergründe zu Sellins Ausgrabungen am Tell Balata anhand von Archivmaterialien zum ersten Mal erhellt werden konnten. Die nächste Aufgabe wird sein, anhand der erhaltenen Dokumentation und der in alle Welt verstreuten Funde mehr als hundert Jahre nach Beginn der Ausgrabungen die noch erhaltenen Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. (Felix Höflmayer, Agnes Woitzuck, 7.10.2021)