Demonstration für Respekt und gegen Gewalt an Frauen im März 2020 – kurz bevor die ersten Lockdowns die Menschen von den Straßen fegten.

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Gewalt in Intimpartnerschaften hat hierzulande heuer bereits mehrfach tragische Züge angenommen. Die Gefahr, Opfer von Femizid oder Mord zu werden, ist bei einzelnen Hochrisikofällen sehr real.

Außerdem haben auch andere Ausprägungen von Gewalt in Beziehungen durch die Corona-Pandemie neue Dimensionen erreicht. Mit diesen Entwicklungen beschäftigt sich Marion Neunkirchner, Soziologin am Vienna Center for Societal Security (Vicesse) und Sozialarbeiterin im Strafvollzug.

Die Soziologin und Sozialarbeiterin Marion Neunkirchner.
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STANDARD: Welche Formen häuslicher Gewalt sind besonders risikobehaftet?

Marion Neunkirchner: Unserer Forschung zufolge ist Gewalt in Intimpartnerschaften mit einem besonders hohen Risiko verbunden. Wobei es unterschiedliche Formen der Gewalt – zum Beispiel nach der Typisierung der Forschenden Kelly und Johnson – gibt. Die Situational Couple Violence ist eine situationale Gewalt, die meist von beiden Geschlechtern ausgeübt wird. Ein Konflikt kann eskalieren, es kommt zu Handgreiflichkeiten, aber meistens bleibt es bei dieser einen Eskalation, die beiden Partnern leidtut. Die Separation Instigated Violence ist Gewalt, die durch eine Trennung indiziert wird und bei der überwiegend Frauen die Opfer physischer Gewalt sind. Die Gefahr ist hoch, dass diese Gewalt in Tötungsdelikten endet. Bei der Coercive Controlling Behaviour Violence kontrolliert ein Partner sein Gegenüber massiv. Sie wird überwiegend von Männern ausgeübt. Diese setzen die Partnerin der Kontrolle und ökonomischen Gewalt aus, betrachten sie als Eigentum und versuchen, sie zu isolieren. Diese Beziehungen waren im Lockdown besonders gefährlich, da gefährdete Personen noch weniger Möglichkeiten hatten, mit dem Außen zu agieren.

STANDARD: Wirkt die Ausnahmesituation Lockdown als Brandbeschleuniger für Konflikte?

Neunkirchner: Bei der Situational Couple Violence, wo beide in einen Konflikt geraten, kann es sein, dass im Lockdown mehr Spannungen entstehen, das Paar mehr streitet und eine Situation eher eskaliert. Kontrollverhalten kann im Gegensatz dazu während des Lockdowns verstärkt ausgelebt werden, dadurch bilden sich weniger Reibungsflächen für den Täter, eifersüchtig zu sein. Mit den Öffnungen ist diese Kontrolle weniger gut möglich, was die Gefahr erhöht, dass die Gewalt wieder steigt. Am Ende eines Lockdowns ist auch eher ein Anstieg des Kontrollverhaltens denkbar.

STANDARD: Gab es im Lockdown mehr Gewaltdelikte?

Neunkirchner: Die Datenlage dazu ist europaweit sehr heterogen. Man kann nicht eindeutig davon ausgehen, dass häusliche Gewalt und Delikte häuslicher Gewalt stark zugenommen haben, jedoch kann ein Lockdown deren Intensität begünstigen. In Österreich ist die Zahl der ausgesprochenen Annäherungsverbote während der Lockdowns im Vergleich zu den Vormonaten gestiegen. Ein Vergleich zum Vorjahr ist aufgrund der veränderten Zählweise nicht aussagekräftig. Zuvor wurde die Zahl der Gefährder erhoben, nun die Anzahl der gefährdeten Personen. Was die polizeilich angezeigten Delikte im Bereich häuslicher Gewalt betrifft, ist die Zahl weitgehend gleich geblieben. Allerdings sind Delikte in anderen Kriminalitätsbereichen während des ersten Lockdowns, mit Ausnahme der Cyberkriminalität, gesunken. Da es keinen Tatbestand der häuslichen Gewalt gibt, werden Straftatbestände von Körperverletzung über gefährliche Drohung bis hin zu Stalking und fortgesetzter Gewaltausübung aufgenommen. Was wir noch heranziehen können, sind Anrufe bei Frauenhotlines, die teils stark zugenommen haben. Die Anfragen bei Frauenhäusern und Gewaltschutzzentren haben jedoch zu Beginn sogar abgenommen und sind erst gegen Ende des Lockdowns wieder gestiegen.

STANDARD: Wie lässt sich diese Entwicklung erklären?

Neunkirchner: Anfangs war nicht klar, ob ein Frauenhaus im Lockdown offen hat. Wenn der Zugang im sozialen oder medizinischen Bereich beschränkt ist, besteht die Gefahr, dass weniger Fälle häuslicher Gewalt bekannt werden. Im medizinischen Bereich war im Lockdown die Zuständigkeit der Krankenhäuser stark auf Corona fokussiert. Häufig war unklar, ob man ins Krankenhaus gehen kann oder das aufgrund der Angst oder des Risikos, sich mit Corona zu infizieren, überhaupt will.

STANDARD: Sind verfügbare Daten dann überhaupt aussagekräftig?

Neunkirchner: Die Daten müssen gründlich analysiert werden, um eine Aussage treffen zu können. So ist etwa bei einer rückläufigen Anzeigeerstattung nicht einfach davon auszugehen, dass weniger häusliche Gewalt vorgefallen ist, sondern zu überlegen, ob es daran liegen kann, dass manche Personen in Kontrollbeziehungen ausharren und nicht die Möglichkeit hatten, Hilfe zu suchen.

STANDARD: Auf welche Grenzen stoßen Sie in der Risikoprävention?

Neunkirchner: Oft weiß man, dass ein hohes Risiko besteht, aber die Zuständigkeit der Polizei endet beim Betretungsverbot meist nach zwei Wochen. Hier gibt es oft eine Lücke. Man kann versuchen, Opfer über Opferschutzeinrichtungen zu erreichen. Wird aber massiv Kontrolle ausgeübt, kann es sein, dass die Beratung nicht mehr wahrgenommen wird, weil sich der Täter wieder in der Wohnung aufhalten oder sich annähern kann, wenn keine einstweilige Verfügung beantragt wird.

STANDARD: Welche Maßnahme könnte in Situationen helfen?

Neunkirchner: Ein Best-Practice-Modell stammt aus Finnland, dort gibt es multiprofessionell besetzte Ankerteams, in denen behördenübergreifend von Polizei, medizinischem Personal und sozialer Arbeit zusammengearbeitet wird. In Fällen häuslicher Gewalt haben diese Teams die Möglichkeit, einerseits mit Auftrag der Polizei zu intervenieren und andererseits gleichzeitig schon Beratungs- und Unterstützungsleistungen anzubieten. Dieses Modell könnte auch für Österreich in Betracht gezogen werden. (Marlene Erhart, 8.10.2021)