Geld für Kinder geben, Stimmen von Eltern nehmen: Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) baut den ungleichen Familienbonus weiter aus.
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Für den Chef einer rechtskonservativen Partei mit starkem Rückhalt in der Mittelschicht setzte Sebastian Kurz (ÖVP) eine bemerkenswerte Priorität. Als allererste Zielgruppe der türkis-grünen Steuersenkung nannte der Kanzler bei der Präsentation am Sonntag Kleinverdiener, die "treffsicher" entlastet gehörten. Bei früheren Debatten, etwa um den Familienbonus, hatte sich Kurz der Kritik ausgesetzt, das Gegenteil zu tun.

Halten die Tatsachen mit diesem Bekenntnis mit? Für eine Bewertung muss man wissen, dass Kleinverdiener von einer Senkung der Lohn- und Einkommenssteuer nichts haben. Bis zu einem steuerpflichtigen Jahreseinkommen von 11.000 – Bruttoeinkommen minus Sozialversicherung und Absetzbeträge – fällt keine Steuer an, das entspricht knapp 15.000 Euro brutto. Was diese Gruppe aber sehr wohl zahlt, sind die Beiträge für Kranken-, Pensions- und Arbeitslosenversicherung. Entlastungen müssen also hier ansetzen.

Die Regierung hat das zweimal getan. In einer ersten Etappe hoben ÖVP und Grüne den bestehenden Sozialversicherungsbonus sowie die Verkehrs- und Pensionistenabsetzbeträge an. Nun soll noch der Krankenversicherungsbeitrag für Einkommen unter 2.500 Euro brutto im Monat in neun Stufen sinken: Die Entlastung reicht von 1,7 bis 0,2 Prozentpunkten.

Wie viel Geld diese Schritte unselbstständig Beschäftigten einbringen, zeigt eine Simulation des sozialliberalen Momentum-Instituts. Ein Kleinverdiener mit 600 Euro laufendem Monatsgehalt erspart sich demnach 314 Euro im Jahr, beim doppelten Einkommen sind es 400.

1,2-Milliarden-Loch für Gesundheitskasse

Die Kosten für die Senkung, die allein für die Beiträge der Dienstnehmer, also nicht der Arbeitgeber, vorgesehen ist, sind stattlich. Die Regierung kalkuliert mit 1,2 Milliarden Euro im Vollausbau ab 2025 – und verspricht, den Gesundheitskassen die entfallenden Einnahmen für die Versorgung zu ersetzen.

Das bringt der Koalition Zuspruch von nicht selbstverständlicher Seite ein, wenn auch mit Einschränkungen. Arbeiterkammer-Experte Wolfgang Panhölzl lobt die vorgesehene Entlastung, hält aber den Zugang für falsch. Die neunfache Abstufung der Krankenversicherung bringe unendlich viel Verwaltungsaufwand für die öffentlichen Stellen und die Lohnverrechner der Unternehmen mit sich sowie manche Ungerechtigkeit: Wer sein Geld in zwei Teilzeitjobs verdient, werde in manchen Fällen weniger Beiträge zu zahlen haben als jemand, der gleich viel in einem einzigen Job verdient. Panhölzl empfiehlt stattdessen, einfach den bestehenden Sozialversicherungsbonus weiter auszubauen.

Mehr Einkommen, mehr Geld retour

Wer genug verdient, um nicht allein auf die Beitragssenkungen angewiesen zu sein, bekommt bei der Steuersenkung mehr Geld heraus. Bei einem Einkommen von 2.200 Euro brutto im Monat beträgt die Entlastung 633 Euro im Jahr, bei 3.200 winken 1.006 Euro, bei 5.000 Euro sind es 1.360 Euro (siehe Grafik).

Vergleicht man die Entlastung hingegen im Verhältnis zur Einkommenshöhe, kehrt sich der Verlauf um. Der Kleinverdiener mit 600 Euro bekommt im Jahr mehr als ein halbes Monatseinkommen zurück, bei 3.200 Euro ist es "nur" mehr ein knappes Drittel, bei 5.000 Euro ein gutes Viertel.

Was die kalte Progression frisst

Die große Schieflage sehe er bei der Senkung der Lohn- und Einkommenssteuer nicht, sagt Momentum-Chefökonom Oliver Picek. Dass der Staat auf diese Weise Geld zurückgibt, dass er via kalte Progression – eine schleichende Steuererhöhung dank Inflation – eingenommen hat, habe seine Logik.

Allerdings könne von einer tatsächlichen Entlastung insofern keine Rede sein, als die Mehreinnahmen aus der kalten Progression der letzten zwölf Jahre laut Momentum-Rechnung nicht einmal voll abgegolten würden. Das mache die gleichzeitig beschlossene Senkung der Körperschaftssteuer (KöSt), die Picek ohnehin für eine ungerechtfertigte Gabe an einen kleinen, gewinnstarken Teil der Unternehmen hält, noch kritikwürdiger: Während die kalte Progression die Steuersenkung für die Arbeitnehmer in ein paar Jahren wieder auffresse, bleibe den Unternehmern der Vorteil der KöSt-Senkung voll erhalten.

Kritik am Familienbonus

Eine prolongierte Ungerechtigkeit erkennt Picek in einer anderen Maßnahme. Die Regierung baut den Familienbonus, ein türkises Lieblingsprojekt, noch einmal von 1.500 auf 2.000 Euro pro Jahr und Kind aus. Weil dieser als Absatzbetrag konzipiert ist, profitieren davon nur Menschen, die genug verdienen, um Steuern zu zahlen. Der volle Effekt setzt laut AK bei einem Kind künftig erst ab 2.000 Euro brutto ein, bei zwei Kindern ab 2.700 Euro.

Dass der Mehrkindbetrag als Ersatz für Kleinverdiener ausgebaut wird und künftig nicht bloß für Alleinerzieher und -verdiener gilt, ändert laut Momentum-Rechnung nichts Grundlegendes am Sachverhalt: Eltern, die zu den beiden oberen Fünftel der Einkommensverteilung zählen, profitierten vom Familienbonus am meisten.

Eine endgültige Bilanz lasse sich jedoch erst in ein paar Jahren ziehen, sagt Picek. Spare die Regierung im Gegenzug zur Steuererhöhung im Gesundheitssystem, bei den Pensionen oder anderen Leistungen des Sozialstaates, könne die Sache ganz anders aussehen: "Dann werden gerade die Kleinverdiener, die von öffentlichen Ausgaben besonders profitieren, zu leiden haben." (Gerald John, 6.10.2021)