In der Krise, so lautet ein Bonmot des ehemaligen deutschen Kanzlers Helmut Schmidt, zeigt sich der Charakter. Welche guten und schlechten Eigenschaften die Corona-Extremsituation zum Vorschein bringt und warum die aggressive Stimmung in der Bevölkerung zunimmt, darüber spricht die Psychoanalytikerin Jeanne Wolff-Bernstein.

STANDARD: Wenn die österreichische Bevölkerung bei Ihnen auf der Couch säße, welche Diagnose würden Sie ihr stellen, eineinhalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie?

Wolff-Bernstein: Die Bevölkerung scheint tief gespalten zu sein. Diese Spaltung existierte latent seit Jahrzehnten schon vor der Corona-Krise, aber sie hat sich mit der Flüchtlingskrise 2015 nochmals vertieft. Das hat den Boden für eine große Angst, vor allem für all das, was von außen eindringt, sehr fruchtbar gemacht. Diese Angst vor dem Unbekannten bewirkt eine starke Schutzhaltung. Am Anfang der Pandemie gab es ein gewisses Zusammenhalten. Der Lockdown in Österreich war ja einer der ersten und strengsten. So unheimlich die ersten Wochen waren, so sehr verlief das Leben doch sehr geordnet. In dem Moment aber, wo die ersten Lockerungen eintraten, wo Überlegungen über weitere Schritte stattfanden, da traten die ersten großen Zweifel auf.

STANDARD: Während des ersten Lockdowns hat diesen kaum jemand hinterfragt. Warum traten erst spät Zweifel auf, dafür umso heftiger?

Wolff-Bernstein: Österreich ist ein Land mit einer relativ kleinen Bevölkerung, das sehr autoritätshörig ist und sich durchaus einen starken Mann an der Spitze wünscht, der sagt, wie die Menschen sich zu verhalten haben. Das wurde am Anfang erzielt. Wenn der starke Mann sich jedoch nicht mehr als so stark erweist und Konflikte in der eigenen Regierung ersichtlich werden, dann kommen Zweifel über seine Autorität auf. Der Gedanke setzt sich langsam fest, dass die Regierung eventuell auch nicht mehr weiß als man selbst. Zweifel und Kompromisse wurden sehr schnell als Schwäche interpretiert und wahrgenommen. Das trifft auch auf Wissenschafter zu.

Etwas nicht zu wissen, halte der Mensch generell nur schwer aus, sagt Wolff-Bernstein. Das mache uns auch so anfällig für Verschwörungstheorien.
Foto: Urban

STANDARD: Der österreichische Psychiater und Buchautor Reinhard Haller hat das Coronavirus als anti-narzisstisch bezeichnet, weil es unsere Verletzbarkeit so offen zur Schau stellt. Welche Ferndiagnose attestieren Sie dem Virus?

Wolff-Bernstein: Es hat uns sehr schnell mit unserer Hilflosigkeit und Sterblichkeit konfrontiert. Das kann dann leicht zu einer Gegenreaktion führen: Wir behaupten dann, dass uns das Virus nichts anhaben kann, dass wir ein gutes Immunsystem haben oder keine Maske brauchen, um unsere Sterblichkeit und Verletzlichkeit zu verneinen. Das Virus hat in radikalster Weise auch Ungleichheiten und Missstände in der Gesellschaft schonungslos aufgedeckt, wie etwa die schlechten Arbeitsverhältnisse in der Fleischindustrie in Deutschland oder in vielen Altersheimen in Frankreich und England. Es ist das demokratischste Virus, das wir je hatten. Wir sind alle davon betroffen, ärmere Schichten der Gesellschaft natürlich viel mehr, aber geschützt ist niemand davor.

STANDARD: In anderen Ländern, etwa in Skandinavien, wird Fakten und Wissenschaft generell mehr Glaube geschenkt. Maßnahmen gegen Corona werden aus Solidarität heraus eher eingehalten als in Österreich. Die USA stellen bei ihrer Impfkampagne wieder einmal ihren Einfallsreichtum und ihre Flexibilität unter Beweis. Fördert diese Krise zutage, wie ein Land tickt?

Wolff-Bernstein: Ich glaube schon. Die Tendenz zum Misstrauen, wenn etwas nicht perfekt funktioniert, und dann ganz das Vertrauen zu verlieren, ist hier viel größer als etwa in liberaleren Ländern wie Skandinavien oder Neuseeland. Es fehlt auch an Solidarität unter den Bürgern. Wer sich allein und zurückgelassen fühlte, schloss sich selten als Gruppe zusammen. Jeder ging seinen eigenen Weg und zog sich in seine Ecke zurück. In den USA ist man in Krisen wie etwa Naturkatastrophen, aber auch in der Pandemie, viel schneller dran, sich zu verbünden, weil es weniger soziale Sicherheit gibt und man sich kaum auf den Staat verlassen kann. Solidarität sehe ich hier im Moment einzig bei den Freiheitlichen: Man fühlt sich in der Opposition zur Regierung solidarisch. Die anfängliche Solidarität der Jungen gegenüber den alten Menschen, wie die nachbarlichen Einkäufe, hat stark nachgelassen. Es hat sich die Einstellung durchgesetzt, zu tun, was man will, vor allem bei den Jungen. Die Jungen fühlen sich ziemlich alleingelassen. Keiner schaut auf sie und berücksichtigt ihre Interessen. Diese Spaltung wird größer werden, befürchte ich.

STANDARD: Welche positiven Eigenschaften haben sich hier gezeigt?

Wolff-Bernstein: Das Gesundheitssystem hier ist fantastisch. Österreich war ja auch nie so schlecht dran wie andere europäische Länder, die zuvor jahrelang am Gesundheitssystem gespart hatten, wie Frankreich oder Italien. Die Verfügbarkeit von Tests und Masken ist hierzulande auch einzigartig. Ich habe zu Beginn der Krise Masken zu Freunden nach Frankreich geschickt, die einfach keine zur Verfügung hatten. Da hat Österreich viel schneller reagiert.

STANDARD: Welche Krankheitsbilder beobachten Sie seit der Pandemie verstärkt?

Wolff-Bernstein: Die meisten haben sich an die Situation gut angepasst und gehen kreativ mit ihr um. Allerdings ist die Suizidrate gestiegen, vor allem unter jungen Menschen. Es gibt viel Leid in Familien, besonders in jenen, in denen sich Eltern eigentlich scheiden lassen wollten und wegen der Pandemie daran gehindert waren, sich zu trennen. Es ist zu mehr Gewalttätigkeiten gekommen innerhalb der Familie, die Rate der Depressionen ist gestiegen. Die Last und Verantwortlichkeit, die momentan auf den Familien liegt, wird zu psychischen Auswirkungen führen, die wir noch nicht voraussehen können.

"Solidarität sehe ich hier im Moment
einzig bei den Freiheitlichen."
Foto: Urban

STANDARD: Apropos Gewalt: Sie haben in einem Vortrag die deutsche Philosophin Annemarie Pieper damit zitiert, dass wir keine angemessene Sprache gefunden haben, um über die Pandemie zu sprechen. Wir würden in Kriegsmetaphern darüber sprechen. Warum ist das ein Problem, wenn wir das Virus als Gegner bezeichnen?

Wolff-Bernstein: Das war anfangs so, inzwischen gibt es mehrere Metaphern, die dazugekommen sind. Wir sprechen inzwischen fast nur in Zahlen: Infizierte, Tote und Genesene. Ich beobachte immer wieder, dass sich unser Reden in Krisen zunehmend auf Zahlen reduziert, weil wir noch keine passenden Worte für ihr Ausmaß gefunden haben. Wenn die Pandemie einmal zu einem Ende kommt, wird es spannend werden, zu sehen, wie die Zahlen zu Erzählungen werden. Wir leben nach wie vor in einem Krisenmodus, um diese weltweite Gesundheitskatastrophe zu bewältigen. Wir wissen heute viel mehr als vor einem Jahr, und die doch sehr schnell gefundene Impfung hat einen großen Unterschied bewirkt. Darüber können wir uns aber bis jetzt nur mittelmäßig freuen. Zum einen trat die neue Delta-Variante kurz nach den Zweitimpfungen auf und stellte infrage, wie wirksam die Impfung nun sein wird. Zum anderen wurden die Stimmen der Impfgegner immer lauter und stärker. Und sie verunsichern natürlich auch jene, die sich mit einem gewissen Bedenken haben impfen lassen. Wir leben im Moment in einer sehr manischen Phase und haben noch gar nicht die Zeit gefunden, die Geschehnisse der letzten zwei Jahre zu verdauen.

STANDARD: Führen uns die Pandemie und vor allem unser Umgang mit der Wissenschaft vor Augen, wie schwer Menschen sich damit tun, Ambivalenzen auszuhalten?

Wolff-Bernstein: Wir halten es wahnsinnig schwer aus, etwas nicht zu wissen. Deshalb ist der Mensch so anfällig für Illusionen, Verschwörungstheorien und einseitige Prophezeiungen. Herbert Kickl ist ein gutes Beispiel, er bezeichnet das Virus als Hokuspokus und hält die Impfung für entbehrlich: Er setzt dort an, wo es Zweifel gibt. Wenn wir uns ungeschützt fühlen, lassen wir uns leicht dazu verführen, alles in eine schwarz-weiß denkende Welt einzuordnen. Ein "Nichtwissen" als nicht schamhaft zu erleben, sondern als Bereicherung, braucht viel Reife, innere Sicherheit und erfordert wenig inneren Machtanspruch. Die Bereitschaft, etwas zu lernen, wird aber allgemein weniger gefördert. Die Technologie arbeitet immer wieder darauf hin, unsere narzisstischen Wünsche so schnell wie möglich zu befriedigen. Die junge Generation weiß nicht mehr, wie es ist, länger über etwas nachzudenken, weil sie sofort zum iPhone greift und nachsieht. Aus diesem starken Wunsch nach vollkommener Sicherheit heraus können viele Menschen auch schwer akzeptieren, dass ein Wissenschafter seine Meinung ändern kann, darf und soll.

STANDARD: Wissenschaftsskepsis hat es in Österreich immer gegeben. Derzeit berichten Expertinnen und Experten aber von einem immensen Ausmaß von Aggression ihnen gegenüber.

Wolff-Bernstein: Die meisten Menschen haben noch nie eine Pandemie erlebt, und diese ist besonders unheimlich, weil sie auf der ganzen Welt verbreitet, unberechenbar und kein Ende in Sicht ist. Jede nicht eingehaltene Voraussage schürt weiter die Angst, dass es kein sicheres Gegenmittel gibt. Das liefert uns unserer eigenen Hilflosigkeit aus und kann schnell zu einer Gegenreaktion führen: Wir behaupten, dass uns das Virus nichts anhaben kann, wir ein gutes Immunsystem haben, keine Maske brauchen, um unsere Verletzlichkeit zu verneinen. Bis die Pandemie zu Ende ist, werden die, die ohnehin schon Zweifel haben, in ihrer Enttäuschung, Verzweiflung und in ihrem Begehren nach uneingeschränkter Sicherheit, noch aggressiver werden.

STANDARD: Wie kann man gegensteuern?

Wolff-Bernstein: Eine sehr schwierige Frage. Wir haben bis jetzt keinen guten Modus gefunden, und die Stimmen der Impfgegner werden immer lauter und bedrohlicher. Eine Möglichkeit könnten zum Beispiel regelmäßige öffentliche Gesprächsrunden sein, in denen sich Befürworter und Gegner respektvoll austauschen. Je weniger sich Impfgegner von einer Obrigkeit bevormundet fühlen, um so größer könnte die Chance sein, dass sie wieder zu ihrem eigenen Verantwortungsgefühl zurückkehren. Man darf vielleicht am Ende auch nicht vergessen, dass diese Anti-Impf-Demonstrationen einen gewissen karnevalesken Charakter haben. Menschen verschiedenster Hintergründe verbünden sich, um laut und hemmungslos gegen die Regierung zu demonstrieren. Dass erzeugt einen gewissen Lustgewinn, der entfallen könnte, wenn es kein Verbot mehr gäbe, gegen das man demonstrieren könnte.

STANDARD: Sie haben sich mit anderen Pandemien beschäftigt. Was haben Sie daraus gelernt?

Wolff-Bernstein: Dinge, die sich aus Pandemien entwickelten, bleiben bestehen, aber der Zusammenhang mit der Pandemie wird meist vergessen. Dass der Ausbruch der Cholera mit Hygiene und verschmutztem Wasser zusammenhängt, führte zum Beispiel zur Einführung des guten Wassersystems in Wien. Es wird auch dieses Mal etwas übrigbleiben, aber man wird vergessen, dass es im Zusammenhang mit der Pandemie entstanden ist.

"Bis die Pandemie zu Ende ist, werden die, die schon Zweifel haben, noch aggressiver werden."
Foto: Urban

STANDARD: Was könnte denn bleiben?

Wolff-Bernstein: Der Mensch ist ja gespalten: Ein Charakter kann ja sehr stur sein und sich nicht ändern wollen, auf der anderen Seite können wir uns aber auch schnell an neue Situationen anpassen. Die Tatsache, dass es eine Regierung geschafft hat, eine Bevölkerung einzusperren, und dass sich alle daran gehalten haben und ihr Leben radikal umgestellt haben, war höchst erstaunlich. Für jene Gruppe von Menschen, für die die Pandemie Vorteile gebracht hat – wegen Homeoffice, Entschleunigung oder weniger sozialer Kontakte –, für die bleiben diese Vorteile teilweise bestehen. Man wird weiter überdenken müssen, ob Arbeit und Zuhause getrennt bleiben müssen. Für diejenigen, für die die Pandemie keine Verleumdung ist, sondern eine echte Krisensituation, deren Denken ist durch die Anpassung an die Pandemie flexibler geworden. Dinge sind jetzt möglich, die vorher nicht durchzuführen waren. Psychotherapien zum Beispiel wurden vor Corona nicht von der Versicherung gezahlt, wenn sie am Telefon stattfanden. Das hat sich geändert.

STANDARD: Das Tragen von Masken dürfte auch bleiben.

Wolff-Bernstein: Die Maske war ja früher ein Symbol der Freiheit. In der Faschingszeit ermöglichte sie es, für ein paar Tage hinter der Maske all das zu sagen, was man sich sonst nicht zu sagen getraut hat. Die Differenzen zwischen den Klassen wurden somit kurzfristig aufgehoben. Auch Kaiserin Maria Theresia verkleidete sich und mischte sich mit einer Maske unters Volk, um zu hören, was das Volk über sie erzählte. Diese Maske, die ja eigentlich ein Symbol der Freiheit war, ist heute zum Symbol der Unfreiheit, der Unterdrückung geworden. (Anna Giulia Fink, 7.10.2021)