Baron Karl.

Foto: Gemeinfrei

Am 13. Oktober 1948 wurde in Favoriten, Ecke Favoritenstraße und Schleiergasse, der 66-jährige Karl Baron von einem Lastwagen angefahren und getötet. Ein Ereignis, das normalerweise nur eine kurze Zeitungsnotiz wert gewesen wäre, wenn – ja, wenn Karl Baron nicht der Baron Karl gewesen wäre.

Der Baron Karl – eines jener Wiener Originale, deren es in der Zwischenkriegszeit etliche gab. Besser gesagt, ein Bezirksoriginal, denn er verließ Favoriten fast nie. Außerhalb des zehnten Bezirks war er wenig bekannt. Das änderte sich allerdings nach seinem Tod, denn die Favoritner Musikervereinigung übernahm die Organisation des mit Spenden finanzierten Begräbnisses "ihres" Barons. Und dieses Begräbnis entwickelte sich zum Großereignis, 8.000 bis 10.000 Menschen gaben ihm das letzte Geleit auf dem Zentralfriedhof, angeblich mussten sogar Straßenbahnzüge eingeschoben werden. In den Grabreden und Nachrufen wurde der Baron Karl als "lieber Augustin von Favoriten", als "lachender Philosoph", als "Diogenes von Favoriten" bezeichnet, der altkatholische Priester, der ihn einsegnete, verglich ihn gar mit Christus. Fast alle Zeitungen Wiens berichteten – nicht immer positiv – über das Begräbnis und den Baron Karl.

Sofort nach seinem Tod begannen sich Geschichten um ihn zu bilden, viele Spekulationen um seine Herkunft wurden ausgestreut. Da es zu seinen Lebzeiten nur wenige Berichte über ihn gab und vieles nur mündlich überliefert wurde, vermengt sich seine Geschichte zu einer Mischung aus Dichtung und Wahrheit, aus Fakten und vielfach verklärten Erinnerungen.

Er wollte nur mehr musizieren

Der Vater Karl Barons, Ferdinand, war ein in Wien geborener Tscheche, der später mit seiner Frau Anna nach Böhmen zog, wo Karl 1882 und seine Schwestern Anna und Rosa zur Welt kamen. Ende des 19. Jahrhunderts zogen die Barons wieder nach Wien zurück und wohnten an verschiedenen Adressen in Favoriten, letztendlich in einer Hausbesorgerwohnung in der Raaber-Bahn-Gasse 9. Es ging ihnen finanziell recht gut. Der Vater war Maurer und brachte es bis zum Polier. Rosa wurde Schneiderin und Karl Möbeltischler, Anna heiratete Franz Pölzer. Zur Familie Pölzer gab es noch eine weitere Beziehung, denn eine Cousine von Ferdinand Baron war die Sozialdemokratin Amalie Pölzer, eine der ersten Frauen im Gemeinderat 1919 und Namensgeberin für das Amalienbad am Reumannplatz.

Karl hatte von seinem Vater die Musikalität geerbt, er spielte Geige und andere Instrumente. Nach seiner Lehrzeit nahm er eine Stelle als Tischler im Arsenal an, das damals noch zum 10. Bezirk gehörte. Im Mai 1905 verletzte ihn ein Kollege mit einem Hammer am Jochbein. Nachdem er aus einer Ohnmacht erwacht war, hatte er sich verändert. Er wollte nicht mehr zur Arbeit, er wollte nur mehr künstlerisch tätig sein und musizieren. Nichts konnte seinen Entschluss ändern, er arbeitete nur mehr gelegentlich. 1915 musste Karl Baron zur Armee einrücken, war lange krank und desertierte im August 1918, was aber ohne Folgen blieb.

Ein Vagabundenleben

Nach dem Krieg unterstützte er seine inzwischen verwitwete Mutter durch Gelegenheitsarbeiten, es wird von einer Liebesgeschichte erzählt, die schlecht ausging. Er begann zu trinken und begann sein Vagabundenleben auszuweiten. Er musizierte auf der Straße, begann Sprachen zu lernen. Angeblich beherrschte er vier Sprachen, war ein schneller Kopfrechner und kannte alle Straßen und Plätze Favoritens. Eine letzte feste Adresse hatte Karl noch von 1921 bis 1926 in einer Wohnung am Keplerplatz 14, dann erfolgte die Abmeldung nach "unbekannt". Sporadische Aufenthalte in Männerherbergen und Obdachlosenheimen der Stadt Wien folgten. Im Sommer schlief er, ebenso wie viele andere der Ärmsten, in Erdhöhlen in der Böschung des Laaer Bergs, oder auf Parkbänken, in Mistkisten oder in der "Kommunekiste", in der Streusand aufbewahrt wurde. Wenn es kalt war, setzte er sich auf den Gehsteig vor eine Polizeidienststelle und spielte so lange krächzend auf seiner Geige, bis er wegen Ruhestörung zu einer Nacht Arrest verurteilt wurde.

Inzwischen war er im ganzen Bezirk schon als "Baron Karl" bekannt. Er verrichtete Aushilfsarbeiten für Wirte, Marktstandler und andere Betriebe und bekam dafür Essen und abgelegte Kleidung. Bier und Tabak erwarb er sich als Fassltippler und Tschickarrtierer, das heißt, er sammelte weggeworfene Zigarettenreste und in seinem Blechgeschirr den Bierhansl, also die Reste aus den Bierfässern. Auf der Straße verkaufte er Lotterienummern, die er auf Zettel schrieb und die gerne gekauft wurden, da man ihn als Glücksbringer betrachtete. Er war unaufdringlich und bettelte nie, hatte auch nie Anstand mit der Polizei. Von dem Wenigen, das er hatte, gab er noch anderen etwas ab. In den Parks von Favoriten war er immer von einer Schar von Kindern umringt. Er erzählte ihnen Geschichten und musizierte für sie. Wenn Erwachsene stehen blieben, um zuzuhören, ging er mit dem Hut Geld einsammeln, um damit den ärmsten Kindern Essen und Naschereien zu kaufen. Die Eltern ließen die Kleinen in seiner Obhut, ermahnten sie aber, sich zu waschen, denn "sonst schaust bald aus so wie der Baron". Im Favoritner Wochenblatt vom 16. August 1958 erinnert sich der Autor eines Artikels an seine Kindheit und dass der Baron Karl wirklich meistens schmutzig war. Er beschreibt ihn als rundlichen Mann, der einen weiten Mantel trug, den er auch als Schlafdecke verwendete. Mit sich trug er immer "zwei Reindln, einen verbogenen Zinnlöffel, einen Wecker, eine Geige samt Fiedelbogen … Auf dem Kopf trug er immer ein wahres Unikum von einem Hut, die Reste eines verbeulten 'Steifen'".

In den Himmel "einifliagn"

Während der Naziherrschaft in Österreich wurde der Baron in diversen Obdachlosenheimen untergebracht, wo er, wie die anderen Insassen auch, "Sackl picken" musste. Zeitweise stand er, wohl zu seinem eigenen Schutz, im Heim unter Hausarrest. Er überstand das Dritte Reich trotz der Gefahren, die es für Menschen seiner Lebensweise brachte und trotz seiner Spötteleien über das Regime unbeschadet.

Nach der Befreiung war Karl so glücklich, wieder auf der Gasse und in Freiheit zu sein, dass er singend durch die Straßen gelaufen ist und mit den Kindern Ringelreihen getanzt hat. Mit ihm feierten die Menschen Favoritens. Er war vom Original zum Symbol geworden: Ein befreiter Baron Karl bedeutete Freiheit für alle.

Er war mit seinem Leben auf der Straße zufrieden, vielleicht sogar glücklich. Einer seiner Lieblingssprüche war "I bin … ein armer Reicher. I bin der Liebe Augustin von Favoriten. Und ein einziger Wunsch an das Schicksal ist, daß ich einmal gaach in Himmel einifliag…". Vielleicht ist dem Baron Karl dieser Wunsch ja am 13. Oktober 1948 in Erfüllung gegangen.

Das Grab am Matzleinsdorfer Friedhof.
Foto: Gemeinfrei

Die Grabanlagegruppe auf dem Zentralfriedhof wurde 1995 aufgelassen. Das Bezirksmuseum Favoriten kaufte ein Ersatzgrab auf dem Matzleinsdorfer Friedhof an und betreut es. Im selben Jahr wurde die Baron-Karl-Gasse in Favoriten nach diesem Bezirksoriginal benannt. (Friederike Kraus, 8.10.2021)