In seiner 44-minütigen Rede am Mittwoch blieb Boris Johnson Einzelheiten schuldig.

Foto: EPA/NEIL HALL

"Optimistisch und radikal" will die britische Regierung tiefsitzende Probleme Großbritanniens anpacken – mit diesem Versprechen hat Boris Johnson am Mittwoch das Jahrestreffen seiner Konservativen Partei beendet. Inmitten einer anhaltenden Versorgungskrise sprach der Premier von einem "kaputten Wirtschaftsmodell": Allzu lang hätten Unternehmen auf billige Arbeitskräfte aus dem Ausland gesetzt. Stattdessen befinde sich das Land nach den "Belastungen und Anstrengungen" der vergangenen Wochen auf dem Weg zu einer Ökonomie mit "besserer Bildung und höheren Löhnen".

In seiner 44-minütigen Rede blieb Johnson Einzelheiten schuldig. Stattdessen beschränkte sich der 57-jährige frühere Zeitungskolumnist auf eine Aneinanderreihung fröhlicher Witze und packender Slogans. Seine "zupackende Regierung" werde das Gesundheits- und Sozialsystem reformieren und damit "Probleme anpacken, für deren Bewältigung früheren Regierungen der Schneid fehlte" – ein Seitenhieb auf seine konservativen Vorgänger im Amt, David Cameron und Theresa May. Ausdrücklich verteidigte der Parteichef die kürzlich verkündete Erhöhung der Unternehmenssteuer sowie der Arbeitslosenversicherung.

Schuld sind die anderen

Dass es an den Tankstellen des Landes seit knapp vierzehn Tagen immer wieder zu Engpässen kommt, fand Johnson ebenso wenig der Rede wert wie die Verzweiflung von Schweinezüchtern, die wegen fehlender Transport- und Schlachthofkapazitäten Tausende von Tieren notschlachten müssen. Wie in jüngsten Interviews gab der Premierminister auch diesmal Unternehmern die Schuld an der Krise: Statt die heimische Bevölkerung besser auszubilden, hätten Unternehmen viel zu lang auf billige Migranten gesetzt – und würden dies auch jetzt wieder tun.

Gegen diesen Eindruck wandte sich am Mittwoch der Chef der Bekleidungskette Next: Er rede keineswegs "unbegrenzter Einwanderung" das Wort, gab Lord Simon Wolfson der BBC zu Protokoll und verwies auf schwere Personalmängel nicht nur im Einzelhandel, sondern auch bei Restaurants, Hotels sowie Alten- und Pflegeheimen.

Das konservative Mitglied des Oberhauses gehört zur kleinen Minderheit von Geschäftsleuten, die im Vorfeld des EU-Referendums 2016 die Abkehr von Brüssel befürworteten. So kann Johnson gegen Wolfson nicht jene Phrase anwenden, mit der die Regierung sonst jeden Einwand niederzubügeln versucht: Es handle sich um das Gequengele der ewig Gestrigen, die bis heute nur Haare in der Brexit-Suppe finden.

In Johnsons Rede kamen die Haarbüschel der vergangenen Wochen und Monate – die massiv angestiegenen Handelskosten, der Dauerstreit um Nordirland, der Mangel an Lastkraftfahrern und Metzgern, Erntehelfern und Hotelrezeptionistinnen – kaum vor. Hingegen habe, so der Premierminister, der Brexit seinem Land ermöglicht, kleinen Fußballvereinen zu helfen und zollfreie Häfen zu planen.

In den "Kaninchenbau"

Angesichts des Feuerwerks von substanzlosen Slogans, albernen Behauptungen und (allenfalls) Halbwahrheiten greifen konsternierte Beobachter zu literarischen Vergleichen. Der bekannte TV-Kommentator Paul Mason sieht die Realität zunehmend von Regierungsfantasien umstellt: Sein Land verschwinde "immer weiter im Kaninchenbau" wie die Titelheldin von Lewis Carrolls berühmtem Kinderbuch Alice im Wunderland. Im konservativen Intellektuellenmagazin Spectator vergleicht Nick Cohen den Premierminister mit Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht: Wie die kluge Märchenerzählerin mit immer neuen Cliffhangern ihre Hinrichtung verhinderte, so bezaubere Johnson seine Anhänger mit immer neuen Geschichten, "damit sie nicht seiner Karriere ein Ende setzen".

Tatsächlich scheint das "Netz von Erfindungen" (Cohen) einstweilen zu halten: In den Umfragen liegen die Tories noch immer mit deutlichem Abstand vor der Labour Party, deren Vorsitzender Keir Starmer vergangene Woche mit heftigem innerparteilichem Widerstand der Parteilinken zu kämpfen hatte.

Johnson bleibt unangefochten: In der Serie uninspirierter Ansprachen auf dem Parteitag unterließ kein Kabinettsmitglied den verbalen Kniefall vor dem Premierminister, auch nicht die derzeit heißesten Favoriten auf seine Nachfolge, Außenministerin Elizabeth Truss und Finanzressortchef Rishi Sunak. (Sebastian Borger aus Manchester, 6.10.2021)