Anwalt Alfred J. Noll schreibt in seinem Gastkommentar über die Angriffe der ÖVP auf die Justiz und die "unselige Allianz zwischen Boulevard und Regierenden".

Wer sich ein wenig auf dem von Politik und Boulevard ausgesteckten Feld bewegt oder auch nur einigen der dort sich Tummelnden beim Werkeln zuschaut, der wird sich über die in der Begründung der Hausdurchsuchung aufgelisteten Ungeheuerlichkeiten nicht groß echauffieren. Die unselige Allianz zwischen Boulevard und Regierenden ist doch, hüben wie drüben und von der Gemeindeebene aufwärts, längst kein Geheimnis.

Im Zentrum von Ermittlungen: Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP).
Foto: Christian Fischer

Ist nicht das Anfüttern des Boulevards mit öffentlichen Mitteln nachgerade der generelle Habitus unserer jeweils Herrschenden? Und entspricht es nicht ebenso den Jahrzehnte währenden Üblichkeiten hierzulande, dass sich der Boulevard dafür "belohnen" lässt?

Dass die boulevardeske Mühewaltung sodann nicht gesondert als Rechnung ausgewiesen wird, sondern dass die jeweilige "Belohnung" über allerlei Vermittlungsstufen als ganz anders titulierter Geldsegen auf die Medien herabtröpfelt, das ändert an der Sache nicht das Geringste: Es ist dies nur die besondere Form einer korruptiv-prostitutiven Zweckgemeinschaft zum wechselseitigen Vorteil von Politik und Boulevard.

Vor diesem Hintergrund sind die nun publik gewordenen Ermittlungsschritte der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) wenig überraschend. Branchenkennern entlocken diese "Neuigkeiten" wenig mehr als ein Lächeln. "So ist das Gschäft halt!" – und wer in diesem Metier heimisch ist und hier etwas erreichen will, der wird den dort herrschenden "Handelsbrauch" entsprechend berücksichtigen. Das war so, das ist so, und das wird vermutlich noch länger so bleiben.

"Die Wortmanöver der ÖVP sind schon aus den von Bundespräsident Van der Bellen genannten Gründen eine veritable Grenzüberschreitung, denn hier wird die Justiz als verfassungsmäßige Einrichtung pauschal in der Öffentlichkeit herabgesetzt."

Sehr viel weniger einfach sind die genuin politischen Gegebenheiten zu entschlüsseln. Hier kommen unterschiedliche Perspektiven in Blickweite:

Die ÖVP "leidet" nun schon seit längerem unter dem emsigen Tätigwerden der WKStA. Den offenkundigen Misslichkeiten versucht sie sich mit den nahezu vertrottelten Vorwürfen zu entwinden, in der WKStA bestünden "linke Zellen" (Abgeordneter Andreas Hanger), und die jüngste Hausdurchsuchung sei "reine Show" (Klubchef August Wöginger).

Die Wortmanöver der ÖVP sind schon aus den von Bundespräsident Alexander Van der Bellen genannten Gründen eine veritable Grenzüberschreitung, denn hier wird die Justiz als verfassungsmäßige Einrichtung pauschal in der Öffentlichkeit herabgesetzt. Diese Strategie des substanzlosen "Anpatzens" ist aber überdies eminent unintelligent, weil jede Organisation bei derartigen Angriffen dazu neigt, ihr von außen kritisiertes Verhalten mit noch mehr Verve zu verfolgen und sich gegenüber der Außenwelt hermetisch abzuriegeln, um sich "unberechtigter" Einflussnahme zu entziehen. Anders gesagt: Diese Form der Kritik an der Justiz befördert just das, was sie zu kritisieren vorgibt. Über die moralische Qualität derartiger Wortspenden müssen wir nicht groß räsonieren.

Unkontrollierbare Erregungsamplituden

Daraus entsteht für die ÖVP als Regierungspartei eine Lose-lose-Situation: Täte sie das, was einzig angemessen ist, nämlich die Justiz unkommentiert arbeiten zu lassen, dann sähe sie sich den unkontrollierbaren Erregungsamplituden der Opposition ausgesetzt. Kommentiert sie die Justiz in besagter Weise, dann befördert sie damit nicht nur den Ermittlungswillen der WKStA, sondern macht sich überdies im aufgeklärteren Teil des Publikums und bei anderen Organen der Republik lächerlich, wenn nicht sogar verurteilenswert.

Für die Grünen wird das politische Konkubinat mit der ÖVP erkennbar zur zentnerschweren Belastung. Der nach außen getragene Regierungspragmatismus muss schon aus staatshygienischen Gründen und vor der eigenen Klientel dort seine Grenze finden, wo man durch die Bindung an den Koalitionspartner nicht nur dessen Politik und Gesinnung befördert, sondern durch diese Kohabitation auch die Schwelle herabsetzt, die es zumindest an der Oberfläche noch möglich macht, zwischen ÖVP und Grünen einen Unterschied zu erahnen.

Etwas verspätet

Etwas verspätet sind sich die Grünen dieses Problems dann doch noch bewusst geworden: Nachdem Werner Kogler am Mittwoch die Handlungsfähigkeit des Kanzlers explizit gewahrt sah, wurde dies just tags darauf wieder relativiert, indem die Grünen dies dann öffentlich infrage stellten und die Klubobleute aller anderen Parteien zu einer gemeinsamen Besprechung der Sachlage einluden. Was daraus werden wird, ist noch nicht absehbar. So viel lässt sich aber jetzt schon sagen: Es hapert natürlich nicht an der Handlungsfähigkeit des Kanzlers, sondern es geht hier ausschließlich um die Frage, ob man sich seitens der Grünen einen derartigen Kanzler politisch leisten will beziehungsweise darf.

Werden die Grünen in den nächsten Tagen den Mut haben, sich von der ÖVP zu lösen? Werden sie entweder mit der Opposition eine neue Regierung bilden, oder werden sie Bundespräsident Van der Bellen zur Ernennung einer Expertenregierung ermuntern? Wir wissen es nicht.

Wohin die Reise geht

Ich selbst bin skeptisch, ob die Reise in diese Richtung geht: Die bisherige Performance der Grünen spricht eher dafür, dass es ihnen an handwerklichem Geschick, an politischer Fantasie und an menschlicher Courage fehlt, genau dies zu realisieren – allzu bequem hat man es sich auf der von der ÖVP vorgewärmten Regierungsbank gemacht –, und bekanntlich will, wer einmal sitzt, nicht so gern wieder aufstehen. Und ohne die Grünen ist die Opposition so machtlos wie Kurz gegenüber der Justiz: Man kann sich in Erregung versetzen, aber übers eigene Schicksal bis zur nächsten Wahl entscheiden andere.

PS: "Muss" Bundeskanzler Kurz "jetzt" zurücktreten? Ganz einfach: Tritt er nicht zurück, dann "musste" er nicht. (Alfred J. Noll, 7.10.2021)