Ein Wissenschaftsnetzwerk nahm die Kartierung des primären Motorkortex in Angriff. Er soll eine wichtige Grundlage für künftige Forschung liefern.
Foto: Panthermedia/imago images

Das menschliche Gehirn ist ungeheuer komplex – und es lässt sich durchaus die philosophische Frage stellen, ob wir seine Funktionsweisen überhaupt im Ganzen erfassen können, indem wir dafür das gleiche Organ zum Nachdenken benutzen. Einen besseren Überblick über die Milliarden von Neuronen, die durch Billionen von Synapsen miteinander verbunden sind, soll nun ein Atlas geben, der im Fachmagazin "Nature" veröffentlicht wurde: Er liefert vor allem im Hinblick auf eine wichtige Hirnregion ein Inventar der Nervenzelltypen, wie sie bei Säugetieren vorkommen.

Bei dieser Gehirnregion handelt es sich um den primären Motorkortex. Er gehört zur Großhirnrinde und ist ganz wesentlich für die Fähigkeit, sich zu bewegen: Durch ihn lassen sich Nerven im Rückenmark ansteuern, die für die Aktivierung von Muskeln und damit von Bewegungen verantwortlich sind.

Der deutsche Anatom Korbinian Brodmann überlegte sich um 1900 eine sinnvolle Einteilung der Großhirnrinde in Bereiche, die als Brodmann-Areale bekannt geworden sind. Der primäre Motorkortex deckt sich weitgehend mit dem Areal 4. Generell ist es aber nicht so einfach, Nervenzellen streng in genau umrissene Kategorien zu unterteilen. Auch wie sie organisiert sind und welche Funktionen sie haben, entzieht sich teilweise eindeutigen Definitionen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Forschende sich seit Brodmanns Zeiten mit einer exakten – und erfolgreichen – Kartierung in großem Maßstab lange Zeit eher zurückgehalten haben.

Neue Maßstäbe

Mit dem Atlas will nun aber ein ganzes Konsortium an Forscherinnen und Forschern neue Maßstäbe setzen. Das Team mit mehr als 400 Köpfen arbeitet im Rahmen des BRAIN Initiative Cell Census Network (BICCN) zusammen. Die "Karte", die es für den primären Motorkortex vorlegt, basiert auf der Erforschung von hauptsächlich drei Sorten von Säugetieren: Menschen, Mäusen und Marmosetten. Letztere gehören zu den Primaten und beinhalten beispielsweise die Büschelaffen.

Das Forschungsnetzwerk erarbeitete 16 Studien, die ebenfalls in der aktuellen Ausgabe von "Nature" veröffentlicht wurden und – gemeinsam mit vorangegangenen Studien – die Grundlage des Atlas bilden. Anhand von Merkmalen, die molekulare, räumliche und funktionelle Eigenschaften beschreiben, sortierten sie Zelltypen in Teilklassen mit hierarchischer Anordnung. Diese hierarchische Ordnung ist wichtig für die Schaltkreise, die die Nervenzellen bilden. Und weil sie sich bei allen drei Arten wiederfindet, dürfte sie bei allen Säugetieren von essenzieller Bedeutung sein.

Wissenschafterinnen und Wissenschafter sehen dies als ersten wichtigen Schritt, um einen kompletten Katalog der Hirnzellen von Mäusen zu erstellen. Das wäre enorm hilfreich bei einem Modellorganismus, der häufig verwendet wird und auch eine Grundlage unseres Verständnisses des menschlichen Gehirns bildet, selbst wenn nicht alles von Maus- auf Menschenhirn übertragbar ist.

Prestigeprojekt

"Die BICCN-Arbeiten stellen eine wahre Fundgrube für künftige Entdeckungen dar", schreibt die Schweizer Neurobiologin Silvia Arber, die selbst involviert war, in einem Begleitartikel: Die Untersuchungen führen zu einem detaillierten Verständnis darüber, wie der Motorkortex zahlreiche Formen der Bewegung kontrolliert und moduliert. Das Konkurrenzjournal "Science" titelte mit der Formulierung "Rosetta-Stein der Neurowissenschaften" und zitierte damit den nicht zum Forschungsteam gehörenden Neurowissenschafter Jens Hjerling-Leffler vom schwedischen Karolinska-Institut (an dem im Übrigen auch der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin bestimmt wird).

Die Bedeutung des Atlas wird also hoch eingeschätzt. Im weiteren Verlauf könnten sich Forschungsarbeiten auf ihn stützen, die in der Praxis bei der Behandlung verschiedener Krankheiten helfen. Das gilt insbesondere für Hirnstörungen, die mit der Bewegungssteuerung in Zusammenhang stehen. Das BICCN wird bei seinen Untersuchungen von der US-amerikanischen BRAIN-Initiative finanziell unterstützt, die bis zum Jahr 2027 mit Forschungsförderungen in Höhe von 6,6 Milliarden Dollar – umgerechnet rund 5,7 Milliarden Euro – rechnet. Niedriger sind im Vergleich dazu die Ausgaben des Human Brain Project der Europäischen Kommission. Vor fünf Jahren rechnete man mit einer Milliarde Euro, die bis 2022 aufgewendet werden soll. (sic, 7.10.2021)