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Trotz Demonstrationsverbots gehen Frauen in Kabul auf die Straße.

Foto: Reuters / STRINGER

Frauenrechte sind Menschenrechte, mahnen Aktivistinnen auf den mitgebrachten Schildern. "Elimination of women = elimination auf human beings". Trotz eines Demonstrationsverbots durch die Taliban fanden sich im September über ein Dutzend Frauen vor dem geschlossen Frauenministerium in Kabul ein, berichtete ein Reporter der "New York Times". Auch Mädchen und Frauen haben ein Recht auf Bildung, so eine Forderung der Afghaninnen.

Dort, wo in der afghanischen Hauptstadt das Ministerium für Frauenangelegenheiten untergebracht war, hat die neue Führung nun ein Tugendministerium eingerichtet. Schon während des ersten Taliban-Regimes von 1996 bis 2001 organisierte diese Behörde die brutale Unterdrückung von Frauen. Ihre Wohnung durften sie nur in Begleitung eines männlichen Angehörigen verlassen, es galt die Pflicht, sich mit einer Burka zu verhüllen, andernfalls drohten den Betroffenen Peitschenhiebe.

Ihr einstiger Arbeitsplatz sei "von einem Frauenministerium zu einem Ministerium hundert Prozent gegen Frauen" gemacht worden, sagt Sara Seerat, die als leitende Beraterin im Frauenministerium tätig war. "Der Wechsel ist eine Botschaft, um Frauen verstummen zu lassen", sagt die 27-Jährige.

Hoffnung auf Zugeständnisse

Im Zuge der erneuten Machtübernahme der radikalislamischen Taliban im August blickte die Weltöffentlichkeit auch auf die Lage für Frauen. Frauen würden Zugang zu Bildung und zur Gesundheitsversorgung erhalten, verkündeten die Taliban-Führer vollmundig bei einer ersten Pressekonferenz, Rechte würden ihnen "im Rahmen der Scharia" zukommen. Eine Botschaft, der sowohl afghanische Frauenrechtlerinnen als auch internationale Beobachter*innen mit großem Misstrauen begegneten – und die zunehmend verpufft.

Erst vor kurzem erweiterten die Taliban ihre Übergangsregierung um Mitglieder ethnischer Minderheiten wie der Hazara, unter den insgesamt 47 Vertretern befindet sich jedoch keine einzige Frau. Zuvor hatte auch der UN-Sicherheitsrat die Führung dazu aufgerufen, eine inklusive Regierung unter der Beteiligung von Frauen zu bilden.

Buben und Mädchen dürfen derzeit bis zur sechsten Klasse die Schule besuchen, von weiterführenden Schulen bleiben sie ebenso wie das weibliche Lehrpersonal vorerst ausgeschlossen. Auch im öffentlichen Dienst konnten die allermeisten Frauen bisher nicht an ihre Arbeitsstellen zurückkehren.

Dass die neuen Machthaber liberaler agieren könnten als noch in den 1990er-Jahren, dafür bestehe zumindest eine "Restwahrscheinlichkeit", sagt Katja Mielke, Politikwissenschafterin am Bonner International Centre for Conflict Studies. So würden regionale Kommandeure durchaus unterschiedliche Zugänge verfolgen, insbesondere in nördlichen Gebieten könnten sich Frauen nach wie vor freier bewegen. "Andererseits betonen gerade Frauenrechtlerinnen, dass die Taliban schon damals so argumentierten: Sobald man die Sicherheit für Frauen gewährleisten könne, würden sie auch mehr Rechte erhalten", sagt Mielke im STANDARD-Gespräch.

Humanitäre Hilfe

Bilder des ersten Taliban-Regimes haben sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt, für eine ganze Generation von Mädchen bedeutete es ein Leben in Angst und Isolation. 1989 geboren, besuchte Sana Safi drei Untergrundschulen, um Lesen und Schreiben zu lernen, berichtet die Journalistin im britischen "Guardian". Wie eine Gefangene im eigenen Haus habe sie sich als Kind gefühlt, gleichaltrige Freund*innen fehlten. Die internationale Gemeinschaft dürfe nun ihre Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, so der Appell der jungen Journalistin, die mittlerweile in Großbritannien lebt. Sie müsse Druck ausüben auf die Taliban und zugleich humanitäre Hilfe für die Bevölkerung garantieren – denn die prekäre wirtschaftliche Lage spitzt sich zu.

Afghanistan stehe vor einem Kollaps, warnte jüngst das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. Laut einer Studie könnten bis Ende 2022 bis zu 97 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze fallen – so das Worst-Case-Szenario. "Die internationale Gemeinschaft steht hier vor einem ethischen Dilemma", sagt Gabriele Rasuly-Paleczek, Assistenzprofessorin am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien. So wolle man das Taliban-Regime unter anderem zu Zugeständnissen bei den Frauenrechten bewegen, zugleich benötige die Gesellschaft dringend humanitäre Hilfe, schon jetzt sei die Gesundheitsversorgung und die Versorgung mit Lebensmitteln vielerorts katastrophal. "Ein Teil der Bevölkerung könnte schlichtweg verhungern", sagt Rasuly-Paleczek. Aktuell wird Afghanistan von einer Dürre geplagt, von den 38 Millionen Menschen im Land haben rund 14 Millionen nicht genug zu essen, schätzt das Welternährungsprogramm.

Westlicher Blick

Wie stark die regionalen Unterschiede, vor allem zwischen großen Städten und den ländlichen Regionen, seien, habe der Westen nur unzureichend im Blick, sagt Politologin Katja Mielke. "In den Städten hat sich eine Mittelschicht herausgebildet, am Land fehlen großteils Perspektiven", so Mielke. Gerade in jenen Gebieten, die besonders von kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen waren, hätten die Taliban schneller Fuß gefasst. Schon 2015 habe es Berichte gegeben, wonach rund fünfzig Prozent der Gebiete von den Taliban beherrscht wurden. "Wir dürfen also nicht vergessen, dass viele Frauen bereits unter einer Taliban-Schattenherrschaft gelebt haben", sagt Mielke.

Afghanische Frauenrechtlerinnen kritisieren indes einen oft verengten Blick westlicher Feministinnen auf afghanische Lebensrealitäten. Im Zuge der Machtübernahme der Taliban verbreitete sich jenes Bild rasant, das schon vor Jahren Berühmtheit im Netz erlangte: Drei junge Frauen im Minirock sind auf der Schwarz-Weiß-Fotografie zu sehen, lachend spazieren sie durch das Kabul der 1970er-Jahre. Es sind die nackten Frauenbeine, die zum westlichen Freiheitssymbol taugen – kontrastiert mit der unterdrückten, vollverschleierten Burkaträgerin. Ein solches Minirock-Foto soll 2017 auch Donald Trump davon überzeugt haben, die US-amerikanischen Truppen noch nicht aus Afghanistan abzuziehen: Es beweise, dass der Staat für westliche Werte nicht vollkommen verloren sei. Selbst Appelle, Frauenrechtlerinnen und exponierten Akteurinnen in Politik und Kultur, die für "westliche Werte" gekämpft hätten, humanitäre Visa anzubieten, verhallten freilich vielerorts ungehört.

Aktivistinnen vor Ort werden indes nicht müde, internationale Solidarität einzufordern. "Why the world is watching us silently and cruelly?", ist auf dem Schild einer Demonstrantin in Kabul zu lesen. (Brigitte Theißl, 11.10.2021)