Zwei Männer schlendern aus dem Achtzigerjahrebau in der Radetzkystraße. "Vielleicht sollte ich mich jetzt doch wieder mit Tagespolitik befassen", witzelt der eine. Es ist das Amtsgebäude von Vizekanzler Werner Kogler. Mittwochnachmittag, wenige Stunden zuvor, hatten Ermittler Räume der ÖVP-Zentrale und des Kanzleramts durchsucht. Gegen Sebastian Kurz und seine engsten Vertrauten laufen Korruptionsermittlungen. Die Details sind zu dieser Zeit noch nicht alle zu Kogler durchgedrungen. Er sitzt in seinem Büro und soll dem STANDARD ein Tage zuvor vereinbartes Interview geben. Erscheinen wird es nie, abgesehen von ein paar Zitaten. Die Ereignisse überschlagen sich. Zwölf Stunden nach dem Gespräch ist es längst überholt."

What a time to be alive", ist ein Satz, den man in diesen Stunden oft von Grünen hört. Die Partei befindet sich in einem ständigen Hin und Her zwischen Paralyse und Tatendrang. Was gerade richtig und falsch ist, weiß eigentlich keiner.

Vizekanzler Werner Kogler ist überzeugt:
"Der Eindruck ist verheerend. Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen."
Foto: Christian Fischer

Donnerstagfrüh stellten die Grünen schließlich die Amtsfähigkeit von Kanzler Kurz infrage und vereinbaren Gesprächstermine mit allen Parlamentsparteien. So wie jetzt könne man nicht weitermachen, sind die allermeisten in der selbsternannten Sauber-Partei überzeugt. Und sauber klingt das, was in dem 104-seitigen Ermittlungsakt über die Machenschaften der ÖVP steht, gewiss nicht. "Der Eindruck ist verheerend", sagt Vizekanzler und Parteichef Werner Kogler: "Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen."

Das bedeutet de facto, dass die Grünen Kurz aufgegeben haben. Mit dem Kanzler und dessen Team wollen sie die Koalition nicht fortführen – das spricht Kogler nicht so deutlich aus, wird aber hinter den Kulissen bestätigt. Für die ÖVP gilt das jedoch nicht. Am liebsten würden die Grünen die Koalition retten, nur eben mit einer anderen Führungsriege auf der Gegenseite. Dafür müsste Kurz aber entweder freiwillig oder auf Druck von der Parteispitze weichen, und danach sieht es derzeit nicht unbedingt aus. Die Grünen haben zwar nicht die Hoffnung aufgegeben, doch die ÖVP-Länderchefs stellten sich erst einmal hinter ihren wankenden Helden.

Die Anti-Kurz-Allianz

Bleibt Plan B. Weil weder die Grünen noch die Oppositionsparteien auf Neuwahlen heiß sind, könnte sich im Parlament eine bunte Anti-ÖVP-Koalition bilden. Die größte nicht-türkise Kraft – die SPÖ – ist dafür grundsätzlich bereit. In der türkisen ÖVP sei jeder Anstand verlorengegangen, sagt Parteichefin Rendi-Wagner, Kurz könne sein Amt nicht mehr ausführen, "ohne dass Österreich Schaden nimmt". Diesen abzuwenden liege nun in der Hand der Grünen, die aber Farbe bekennen müssten: Bei der Sondersitzung des Nationalrats am Dienstag will die SPÖ gemeinsam mit der FPÖ und den Neos einen Misstrauensantrag gegen Kurz stellen.

Allerdings ist ein fliegender Wechsel in eine Koalition gegen die ÖVP für die Sozialdemokraten nicht unheikel. Weil sich eine Mehrheit nicht anders ausgeht, müsste auch die FPÖ an Bord sein – unter normalen Umständen ein No-Go für viele in der Partei, das die ÖVP in einem folgenden Wahlkampf genüsslich ausschlachten könnte.

Realistisch sei deshalb wohl nur eine Variante, wo die Blauen per Duldung ohne echte Regierungsbeteiligung den Mehrheitsbeschaffer spielten, schätzt einer aus dem Parlament ein. Das sei nicht aus der Luft gegriffen: Gerade FPÖ-Chef Herbert Kickl habe aus der gemeinsamen Regierungszeit so viele offene Rechnungen mit der ÖVP, dass die Abwahl von Kurz für ihn wohl oberstes Ziel sei.

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner winkt unverhofft die Chance auf eine Regierungsbeteiligung. Doch der Weg dorthin birgt viele Hürden.
Foto: APA/ Hans Punz

Als größte Partei werde die SPÖ dann den Kanzleranspruch stellen, fügt der Sozialdemokrat an, während andere Genossen das für offen halten. Diese Frage sei zweitrangig, sagt einer: Es gehe jetzt einmal darum, "ein mafiöses System" zu beseitigen.

Die Vorbereitungen dafür laufen bereits an. In roten Reihen werden Szenarien gewälzt, wie die Differenzen der Anti-Kurz-Allianz überbrückt werden könnten. Ansatz: Ein gemeinsamer Beschluss solle wichtige Anliegen aller beteiligten Parteien umfassen – quasi das Beste aus vier Welten.

So weit ist es aber noch lange nicht. Erst einmal seien die Grünen am Zug, heißt es aus der FPÖ, der zweitstärksten Partei im potenziellen Bunde. Die kleinere Regierungspartei müsse sortieren und ansagen, wie es nun in der Causa weitergehen soll. Dass Kurz und sein türkises Team das Feld räumen, ist für die FPÖ die Grundvoraussetzung für weitere Schritte.

Sollten die Grünen Ernst machen, wäre der blaue Frontmann Herbert Kickl alles andere als abgeneigt, mit dem ideologischen Gegenpol zu sprechen – und zwar ergebnisoffen, wie es heißt. Darüber hinaus äußert die FPÖ derzeit keine weiteren Wünsche.

Kurz muss weg: Diesen gemeinsamen Nenner vertreten auch die Neos. "Ich habe ganz viel Fantasie, dass Österreich eine Zukunft auch ohne Sebastian Kurz haben wird", sagt Parteichefin Beate Meinl-Reisinger. Neuwahlen will sie vermeiden, deshalb brauche es eine Zusammenarbeit jener Kräfte, die für einen Neuanfang parat stünden. Das von Kogler bereits unterbreitete Gesprächsangebot nehme sie gern an.

Halbherzige Avancen

Allerdings gehen die Grünen nur halbherzig in den Gesprächsreigen. Warum sie lieber in einer Liaison mit der ÖVP bleiben wollen, hat gute Gründe: So manches Regierungsprojekt ist zwar auf Schiene, aber noch nicht unter Dach und Fach. Im Gegensatz zu vielen Kritikern sind Kogler und Co etwa von der eben beschlossenen Steuerreform felsenfest überzeugt. In einer Konstellation mit SPÖ, FPÖ, Neos und Grünen stünde das Paket aber wieder zur Disposition. Denn beschlossen ist es im Parlament bis dato nicht.

Manche Elemente haben gute Überlebenschancen. Gegen die populäre Senkung der Lohn- und Einkommensteuer wird sich kaum eine Partei sperren. Schwieriger ist das schon bei der CO2-Bepreisung samt Öko-Bonus. Neos und die SPÖ ließen sich womöglich mit machbaren Zugeständnissen an Bord holen – etwa indem das rote Wien beim Bonus nicht mehr mit dem Mindestbetrag abgespeist wird. Aber die FPÖ, die den CO2-Preis als reine Belastung kritisiert hat? Da zeichnet sich kein Kompromiss ab.

Möglich ist auch, dass die ÖVP trotz Aufkündigung bei dem einen oder anderen Punkt im Parlament mitgeht, um nicht die eigene Klientel zu verraten. Wirklich absehbar ist das alles aber nicht.

"Nicht zu Ende gedacht"

"Die Grünen haben das nicht zu Ende gedacht", sagt jemand aus der ÖVP. Der Koalitionspartner müsse sich fragen, welcher Nutzen am Ende herausschaue: "Sie wollen uns zwingen, Kurz abzulösen. Aber das wird nicht passieren." Es sei bezeichnend, wie einhellig sich die Landeshauptleute um den Parteichef geschart hätten. Wer die Geschichte der ÖVP kenne, wisse: "Das ist nicht selbstverständlich."

Das gleiche Signal kommt von der Bundesebene. Eine ÖVP-Beteiligung in dieser Bundesregierung werde es ausschließlich mit Kurz an der Spitze geben", versicherten alle ÖVP-Regierungsmitglieder in einer gemeinsamen Erklärung.

Eine Entscheidung werden die Grünen wohl bis kommenden Dienstag treffen müssen, wenn der Misstrauensantrag zur Abstimmung steht. Bei der Meinungsbildung helfen sollte Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der die Parteien am Donnerstag zu getrennten Unterredungen geladen hatte. Die Gespräche über den möglichen Anti-Kurz-Pakt starten am Freitag.

Der Mann, um den sich alles dreht, warf auf dem Weg zum Staatsoberhaupt Journalisten ein paar Sätze hin. Wenn die Grünen abspringen wollten, sei das zu akzeptieren, sagte Kurz, der für Abend ein Krisentreffen mit den Länderchefs anberaumt hatte: "Wir stehen zu dieser Regierung und zum Regierungsprogramm." (Gerald John, Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, 7.10.2021)