"Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein", sang der deutsche Barde Reinhard May, aber auch das stimmt nicht ganz.

Foto: APA / dpa / Frank Rumpenhorst

Es ist über 30 Jahre her, dass im Norden und Osten Grenzen aufgingen. Ein Freund von mir proklamierte angesichts dieser Wende überschwänglich die grenzenlose Nachbarschaft. Er brachte damit ein Gefühl von Begeisterung zum Ausdruck, das seinerzeit viele Menschen auf beiden Seiten der Grenze erfasste.

Die Vorstellung von Grenzenlosigkeit bildet, weit über den politischen Anlassfall hinaus, einen Grundbestand moderner Befindlichkeit. Schon im Kommunistischen Manifest ist davon die Rede, dass die globale kapitalistische Ökonomie die partikularen und feudalen Schranken beseitigt habe.

Grenzenlosigkeit korreliert mit einer Vorstellung von Freiheit, die diese als Grenzenlosigkeit versteht. "Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein", sang 1974 der deutsche Barde Reinhard Mey. Grenzenlose Nachbarschaft kann es freilich ebenso wenig geben wie grenzenlose Freiheit. Der schlechte Ruf von Grenzen ist in Hinblick auf bestimmte Formen von Ein- und Ausschließung zwar nachvollziehbar, führt indes in die Irre. Auch im Himmel.

Im Werk Kafkas

Das ganze Werk Kafkas kreist um den Gedanken von undurchdringlichen Grenzen und Eingesperrtsein. Überall stoßen seine Helden auf einen zähen und unüberwindbaren Widerstand, auf unsichtbare, aber handfeste Grenzen. Ganz besonders im Schloss. Der doppeldeutige Titel des nachgelassenen Romans verbindet das Herrschaftsgebäude mit dem Vorgang des Schließens, was wie im Prozess zur inneren wie äußeren Ausgrenzung führt.

Nicht zuletzt deshalb konnte Franz Kafkas Werk zum Sinnbild der raum-zeitlich geschlossenen Welt des realen Sozialismus werden. Gregor Samsa in seinem Insektenpanzer, die traurige Hauptfigur der Verwandlung, ist wiederum der in seinen Grenzen ge- und befangene Mensch par excellence. Er ist der Ausgegrenzte, der sich als Reaktion selbst noch einmal aus- und abgrenzt.

"Halt! Grenze": 30 Jahre deutsch-deutsche Grenzöffnung feierte die Grenzdokumentationsstätte in Lübeck-Schlutup mit einem Fest.
Foto: Imago / Fotoagentur Nordlicht

Neurotische Menschen lassen sich als von Grenzen eingeschüchterte und neutralisierte Individuen begreifen, die wie gebannt auf diese starren und sich angesichts des Hindernisses nicht mehr zu rühren vermögen.

Sie hocken wie Kafkas Mann vom Lande vor dem Tor, das für sie offen stand, wie der Torwächter am Ende ungerührt meint. Bei genauerem Blick sind Grenzen indes nicht nur schikanös, sie schränken nicht nur ein. Sie tun das vor allem, wenn sie auf Dauer gestellte Schließungen sind. Grenzen sind keineswegs unnötig, vielmehr unhintergehbar.

Durch Grenzen strukturiert der Mensch seine Welt, in der er lebt. Grenzen konstituieren unser soziales und kulturelles Auf-der-Welt-Sein. Mit ihren Spielregeln vertraut zu sein, mit ihnen umgehen zu können, lernen wir von Kindesbeinen an. Sie ermöglichen Schutz, Sicherheit und einen begrenzten Raum zu gestalten. Über das Bedürfnis nach Sicherheit spotten können nur diejenigen, die sie scheinbar im Übermaß besitzen.

Überschreitung

Um dies zu verstehen, muss man sich von einer weiteren irrigen Vorstellung verabschieden, nämlich dass Grenzen vornehmlich physisch sichtbare Barrieren darstellen. Manifeste liminale Gebilde wie Tor und Tür, Mauer, Brücke, Ampel, Wand, Fenster, Zaun oder Membran bilden ähnlich wie Initiationsrituale eher die Ausnahme, sind nicht die Regel.

Sichtbare Grenzen sind die expliziten Formen geregelten Lebens, bei dem es darum geht, Nähe und Distanz, Trennung und Begegnung möglich zu machen. Wer in ein anderes Land einwandert, der sieht sich nicht nur der sichtbaren Hürde der Staatsgrenze gegenüber, sondern all jenen feinen Grenzen, die von den Einheimischen trennen.

Wenn zum Beispiel ein Mann einer Frau in einem überfüllten Raum zu nahe tritt, wissen beide auch ohne Berührung um die Grenzverletzung. Jemand ist mir zu nahe gekommen, das beginnt mit der Überschreitung eines unsichtbaren Abstands. Jede Form von Gewalt lässt sich übrigens als Grenzverletzung interpretieren.

Grenzen verändern sich

Wie das lateinische Wort finis, das sowohl die räumliche Begrenzung wie das zeitliche Finale meint, schlagartig vor Augen führt, haben alle Grenzphänomene nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Dimension.

Grenzen verändern sich, und Grenzen unterliegen einem zeitlichen Mechanismus. Ohne diese Dynamik wäre Kultur nicht das, was sie ist, nicht nur ein Ensemble von Produkten und Artefakten, vielmehr ein Prozess, ein Rhythmus, ein Wechsel von Schließung und Öffnung.

Alles, was begrenzt ist, hat Öffnungs- und damit Schließzeiten. Wenn Grenzen nur geschlossen bleiben, verändern sich soziale Räume in Gefängnisse oder Lager bzw. in unzugängliches Territorium.

Wo sie immer offen stehen, verwandeln sie sich in schwach markierte und beliebige Aufenthaltsorte, in der zentrale menschliche Möglichkeiten unterbunden sind: Rückzugsmöglichkeit, individuelle Gestaltung, das Für-sich-sein-Können, Intimität.

Schule der Erfahrung

Intimität lässt sich übrigens dadurch kennzeichnen, dass dabei ein Paar Dritte ausschließt. So wenigstens hat der Philosoph Emmanuel Levinas diese Konstellation beschrieben. Intimität zieht eine Grenze zu allen anderen Menschen. Aber es wäre wiederum ein Irrtum anzunehmen, dass Intimität "grenzenlose Nachbarschaft" bedeutet. Ganz im Gegenteil.

Das Paar sieht sich ungeachtet aller "anormalen" Grenzüberschreitungen, wie sie Intimität mit sich bringt, damit konfrontiert, einer oder einem und nur einer oder einem zu gestatten, sich mit den physischen und psychischen Grenzen, den eigenen und denen des Gegenübers, zu beschäftigen.

Intimität ist eine Schule der Erfahrung mit dem Liminalen, mit dem Menschen und seinen Grenzen. Grenzen befinden sich also entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil nicht nur weit draußen in der Ferne, auf dem Gebiet des Peripheren und Marginalen, sondern auch, wie François Jullien meint, im Zentrum unserer Existenz.

Die verletzliche Haut

Das lässt sich exemplarisch an einer physischen Besonderheit und Befindlichkeit des Menschen veranschaulichen, der der französische Psychoanalytiker Didier Anzieu eine Studie gewidmet hat, der Haut. Die verletzliche Haut, trotz Haarbestandes kein Fell, übrigens stets auch Angriffsfläche wohldosierter und kalkulierter Grausamkeit, ist eine durchlässige Grenze.

Sie atmet und schließt zugleich unseren Körper ab und ist ein Sensorium für Körperkontakt und Zeichen. Das lyrische Ich in einer der Römischen Elegien Goethes zählt gar der Geliebten "Hexameters Maß leise mit fingernder Hand" "auf den Rücken".

Liebende ersinnen die verschiedensten Mittel, um sich mit den Grenzen des intimen Gegenübers zu beschäftigen. Nähe verläuft über Grenzen. Was immer wir von Tätowierung halten, ohne die Beschaffenheit der Haut, dieser Begegnungszone des Menschen, die unter die Haut geht, wäre diese Einschreibung undenkbar. Ohne Grenzen keine Nähe.

Doppelbödigkeit

Die Membran ist auch deshalb so interessant, weil sie die doppelte Funktion von Begegnung in der stets soziokulturellen Daseinswelt des Menschen vorführt. Jede Art und jede Form der Grenze enthält eine Dimension des Hindernisses, der Abwehr, des Widerstands, des Nicht-Dürfens, objektiv und subjektiv.

Zugleich spricht sie paradoxerweise eine Einladung aus. Sie stellt eine Herausforderung dar, sie wenigstens temporär zu überwinden. Nie werde ich er oder sie sein, aber für einen Augenblick stellt sich ein ekstatisches Gefühl von Innigkeit, von grenzenloser Nachbarschaft ein. Das gilt auch für Gruppen, wenn wildfremde Menschen einander um den Hals fallen.

Entgegen ihrem schlechten Ruf ist die Grenze, wenn man ihre Doppelbödigkeit durchschaut, zugleich die Bedingung der Möglichkeit kreativen Handelns. Nicht die Grenzenlosigkeit, sondern die Grenze, die erst die Möglichkeit der Entgrenzung und des Übersteigens eröffnet, ist die Mutter der Freiheit. In einer grenzenlosen Welt würde es all das nicht geben, was positiv wie prekär die Conditio humana ausmacht.

Entgrenzung ist attraktiv

Entgrenzung ist attraktiv, setzt aber die Existenz von Grenzen stets voraus. Sie verschiebt Grenzen und schafft neue. Es ist kein Zufall, dass die ästhetische Moderne von Anfang an mit Entgrenzungsmanifesten das Licht der Welt erblickt hat, etwa mit dem Postulat, die Grenzen zwischen Kunst und Leben oder zwischen Kunst und Politik aufzuheben oder bestehende Grenzen des Zusammenlebens (etwa im Bereich der Sexualität) außer Kraft zu setzen – solche Vorstellungen sind bereits in der deutschen Frühromantik angelegt und im Modernismus und in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts ausgebreitet worden.

Dass all diese in die Zukunft gerichteten Bewegungen heute kanonisch und damit historisch geworden sind, hängt damit zusammen, dass ihre so provokatorischen wie erotischen Entgrenzungsstrategien ihre skandalöse Wirkung eingebüßt haben, eben weil sie tatsächlich das Leben, Denken und Miteinander insbesondere in der westlichen Welt und damit unsere Grenzen nachhaltig verschoben haben.

Viele sexuelle Provokationen haben aufgehört, solche zu sein. Dass wir in den postmodernen Gesellschaften des Westens in grenzenloser Nachbarschaft lebten, davon kann gar keine Rede sein. Wir leben mittlerweile vielmehr in einer Welt des konformen Individualismus, in dem jede soziale Gruppe sich von den anderen abgrenzt.

Zweifelsohne gibt es zwischen individuellen und handfest politischen Grenzen Unterschiede. Aber auch Überlappungen: Grenzenlose Nachbarschaft ist heute angesichts der Tatsache, dass sich global betrachtet Millionen von Menschen auf die Wanderschaft in eine vermeintlich oder auch wirklich bessere Welt machen, neuerlich zur kollektiven Sehnsucht geworden.

Begrenzte Souveränität

Jahrelang bin ich an einem Graffiti vorübergegangen, das "No border, no nation" proklamierte. Die Utopie einer grenzenlosen Welt, in der es nur Weltbürger im Sinn von Hannah Arendt gibt. Im Falle politisch-staatlicher Grenzen ist grenzenlose Nachbarschaft tatsächlich eine Utopie, etwas, das es nicht gibt und nicht geben kann, weil auch politische Gestaltung interner und externer, sichtbarer und unsichtbarer Grenzen bedarf.

Ironischerweise ist die Souveränität eines Staates deshalb relativ, weil er Nachbarn hat, auf die er Rücksicht nehmen muss. Nachbarschaft setzt Grenzen voraus, im positiven Falle freundliche und offene. Die – stets begrenzte – Souveränität besteht nicht zuletzt darin, dass der Staat seine Grenzen mittels innerer wie äußerer Regelmechanismen zu kontrollieren vermag.

Bei allem Unbehagen an der nationalen Beschränkung, das sich im Nationalismus verlässlich entlädt, dürfen wir nicht vergessen, dass der moderne Nationalstaat jenes Grenzformat gewesen ist, in dem sich Demokratien mit Grundrechten, Gewaltenteilung und demokratischer Verfassung etabliert haben, Staaten, die für sich reklamieren, die Menschenrechte zum Teil der "volonté generale" gemacht zu haben.

Flüchtlinge oder Migranten

Das schließt – Stichwort Afghanistan – offene Grenzen für alle Flüchtlinge nach der Genfer Konvention und temporär für subsidiär Schutzbedürftige ein. Das Problem ist allerdings, wie Ágnes Heller in einem ihrer letzten Vorträge ausführte, dass nicht alle Menschen, die zu uns kommen, Flüchtlinge, sondern Migranten sind, die sich aus verständlichen Gründen auf den Weg vom Süden in den Norden, vom Osten in den Westen machen.

In der Debatte wird dieser Unterschied beinahe von allen Beteiligten verwischt. Die einen suggerieren, dass alle Menschen, die zu uns kommen, potenziell klassische Flüchtlinge nach der Genfer Konvention sind, während, die anderen alle zu Migrantinnen und Migranten abstempeln, die "nur" aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen nach Europa kommen, was natürlich nicht ehrenrührig ist.

Die Bürger, schreibt Heller, müssen entscheiden können, mit wem sie zusammenleben möchten und mit wem nicht. Aber sie haben kein Recht, humanitäres Handeln zu verhindern. Alle liberalen Demokratien in Europa und in Übersee haben, so Heller, Einwanderungsgesetze, die regeln, wer dauerhafter oder temporärer Bewohner oder schließlich Staatsbürger werden kann.

Globale Nachbarn

Ein solcher Hinweis wird den Opponenten in der Migrationsdebatte nicht gefallen, nicht denen, die gar keine Migrantinnen und Migranten akzeptieren möchten, und nicht den anderen, die, uneingestanden, eigentlich niemanden ablehnen wollen, der oder die hilfesuchend an unsere Tür klopft.

Eine neuerliche massenhafte Migration würde freilich jenen Braindrain, jenen Abfluss qualifizierter und aktiver Menschen, beschleunigen, die die Voraussetzung für eine positive politische und wirtschaftliche Entwicklung in jenen Ländern bilden, aus denen sich viele Menschen zu uns auf den Weg machen.

Sie müssen wir nicht nur aus moralischen, sondern auch aus handfesten praktischen Gründen glaubhaft und effizient unterstützen. Unser Zusammenleben ist zwar nicht grenzenlos, wohl aber global. Die Menschen z. B. in Kamerun, im Sudan und im Maghreb sind Nachbarn in einer globalen Welt. (Wolfgang Müller-Funk, ALBUM, 9.10.2021)