Wodin: "Schlagartig erkannte ich in ihren Tränen das Heimweh meiner Mutter."

Foto: Isolde Ohlbaum

Was bedeutet es, gezwungenermaßen seine Heimat zu verlieren, den Ort, an den einen auf ewig Gerüche, Geschmäcker, Sprache und Erinnerungen binden, um in der Fremde ein anderes Leben zu beginnen? Wie schleichen sich Heimweh, Entwurzelung und soziale Degradierung in die Seele, um sie womöglich zu vergiften?

Diese Fragen sind aufgrund der Flüchtlingsbewegungen weltweit nicht nur aktuell, sondern sie sind das literarische Lebensthema der Schriftstellerin Natascha Wodin. In ihrem preisgekrönten Roman Sie kam aus Mariupol zeichnet sie die tragische Geschichte ihrer Mutter nach, die von den Nazis als Zwangsarbeiterin aus der Ukraine nach Deutschland verschleppt worden war, wo schließlich Wodin geboren wurde und in den Baracken einer ehemaligen NS-Zwangsarbeitersiedlung aufwuchs und wo sich die Mutter das Leben nahm.

Autobiografische Gegenspiegelung

Wodin, die heute in Berlin lebt, ist "Eine der neuen Displaced Persons, die heute wieder zu Millionen über den Erdball irren." Dieser Satz stammt aus ihrem neuen Roman Nastjas Tränen. Und er bezieht sich eigentlich nicht auf Wodin selbst, die die Geschichte ihrer ukrainischen Putzhilfe erzählt.

Diese Frau mit dem slawischen Allerweltsnamen Nastja half seit dem dritten Jahr nach dem Mauerfall bei Wodin in der Wohnung aus. Aber eben daraus bezieht das schmale Buch unter anderem seine Spannkraft, aus der autobiografischen Gegenspiegelung und der schicksalhaften Lebensverschränkung zweier Frauen, die zwischen den Welten leben, nach Orientierung suchen beziehungsweise gesucht haben.

So liest man an einer Stelle, als Nastja zu weinen beginnt: "Schlagartig erkannte ich in ihren Tränen das Heimweh meiner Mutter wieder, dieses grenzenlose, unheilbare Gefühl, das das Rätsel meiner Kindheit gewesen war, das Mysterium meiner Mutter, die große dunkle Krankheit, an der sie gelitten hatte, solange ich sie kannte. Fast jeden Tag hatte ich ihre Tränen gesehen, und ich hatte immer gespürt, dass ich gegen das, was sich Heimweh nannte, keine Chance hatte, dass meine Mutter sich jeden Tag ein wenig mehr darin verlor, dass sie unentwegt im Verschwinden begriffen war, dass sie eines Tages endgültig weg sein und nur noch das Heimweh von ihr zurückbleiben würde."

Die Spannkraft dieser weiblichen Verbindung geht allerdings erst in der zweiten Hälfte des Romans so richtig auf, als Wodin sich als Erzählerin selbst einbringt und der literarischen Auseinandersetzung so mehr Tiefgang verleiht. Im ersten Teil erzählt sie die Geschichte Nastjas aus der etwas unklaren Position der allwissenden Erzählerin mehr oder weniger nach, einfühlsam, melancholisch und in einer kraftvollen poetischen Sprache.

Eine Art Schmerzpanorama

Neben der Entwurzelung ist es auch die tragische Geschichte, die Deutschland und die Ukraine aufgrund der Nazi-Okkupation und des Holocaust miteinander verbindet, die Wodin auch in diesem Roman immer wieder aufblitzen lässt und in das Suchen nach Sinn und Menschlichkeit einwebt.

Dies tut Wodin, indem sie vor allem ein Thema in den Vordergrund rückt, das literarisch sträflich vernachlässigt wird: das Schicksal osteuropäischer Frauen, die seit den Neunzigern aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen, um als Haushaltshilfen oder Pflegerinnen ihre Familien in der Ukraine zu unterstützen. Es sind unerkannte Schicksale, denen Wodin eine Geschichte gibt.

Auch Nastja macht sich als gelernte Bauingenieurin auf in den ach so gelobten Westen, nimmt die Identität einer jüdischen Frau an, um die ersehnte Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, sie fliegt auf, wird bestraft, bekommt eine zweite Chance, verliebt sich in einen deutschen Mann, der allerdings mehr Augen für einen alten Mercedes und seinen Computer hat und ein ominöses Doppelleben führt, was sie aber erst nach seinem Tod erfährt, mit dem sie auch die Altlasten eines verquasten, grobschlächtigen Lebens erbt.

Ihre Tochter, zu der sie kaum Kontakt hat, ist auf der Suche nach Liebe und Halt in den Niederlanden gelandet. In Berlin, der Stadt der Ost-West-Verschränkung, ist Nastja umgeben von Schicksalen wie dem ihren. Schicksalen, in denen sich die schmerzhaften Erfahrungen spiegeln, die Zerrissenheit und die unerfüllten Sehnsüchte.

Wodin versteht es, komplizierte Lebensgeschichten in nüchternen Versatzstücken einzubauen, sodass keine Überladung entsteht, sondern ein schillerndes Schmerzpanorama gezeichneter Frauen, die sich dennoch nicht ergeben, sondern weitermachen, kämpfen und das Leben in der Zwischenwelt von Ost und West nach Hoffnung abklopfen.

Wodin, die selbst so ein Dazwischen-Leben führt, erhofft sich, dass zu Nastja, mit der sie auch die russische Sprache und die Nähe zum gemeinsamen Kulturraum teilt, eine Freundschaft entsteht. Aber trotz aller vermeintlicher Nähe und ihrer gemeinsamen Liebe für klassische Musik und Kunst bleiben sich die beiden fremd. Natascha Wodin ist ein Buch gelungen, das vor allem mit einem nicht geizt: Trost und Nachsicht. (Ingo Petz, 9.10.2021)