Wie kann es sein, dass in liberalen Wohlstandsgesellschaften so viele Menschen psychische Störungen entwickeln?

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Oft werde ich gefragt, wie es sein kann, dass in liberalen Wohlstandsgesellschaften so viele Menschen psychische Störungen entwickeln. Einerseits kann man beruhigen – es sind in diesen Gesellschaften nicht zwingend mehr Menschen psychisch krank, sondern es besteht eine höhere Bereitschaft, diese Störungen zu benennen und als Grund für die Inanspruchnahme von Behandlung oder die Anerkennung von Arbeitsunfähigkeit zu akzeptieren. Andererseits ist es dennoch sinnvoll zu überlegen, welche Merkmale moderner Gesellschaften als Risikofaktoren für psychische Störungen wirken können.

Meist werden in diesem Zusammenhang Entwicklungen der Arbeitswelt genannt: Beschleunigung durch Digitalisierung, Entgrenzung durch Homeoffice, ständige Erreichbarkeit etc. Dieser Diskurs ist hinlänglich bekannt, weniger beachtet werden jedoch andere Herausforderungen, die mit einer liberalen, pluralistischen Wohlstandsgesellschaft einhergehen. Sowohl Entscheidungsfreiheit als auch Wohlstand sind nämlich mit hohen Anforderungen verknüpft.

Fehlende Orientierung

Durch die Individualisierungsprozesse der Moderne gibt es keine gesellschaftliche Instanz, kein moralisches Gesetz und auch keine Traditionen mehr, die vorgeben, wie wir zu leben haben. Immer mehr Lebensbereiche sind gestaltbar.

Es gibt eine Überfülle an Entscheidungen und einen Mangel an Orientierung: Lebe ich alleine, in einer hetero- oder homosexuellen Partnerschaft, identifiziere ich mich mit meinem biologischen Geschlecht, oder nehme ich eine andere Geschlechtsidentität an? Suche ich eine Vollzeiterwerbstätigkeit mit guten Aufstiegschancen, gründe ich ein Start-up oder eine Ich-AG, oder strebe ich einen Teilzeitjob an, der mir maximale Gestaltungsmöglichkeiten in der Freizeit verschafft?

Statt Rollenübernahme und Normunterwerfung gilt das Dogma der Eigeninitiative und der Selbstverwirklichung – eine ganze andere Norm. Damit wird suggeriert, dass jeder Mensch seines Glückes Schmied ist, was allerdings auch bedeutet, dass jedes Nichterreichen von Lebenszielen als persönliches Scheitern erlebt wird. Schicksal hat als Erklärungsprinzip ausgedient.

Hohe Erwartungen

Der französische Soziologe Alain Ehrenberg bezeichnet vor diesem Hintergrund die Depression als die Krankheit der Eigenverantwortlichkeit, die Minderwertigkeit als das dominierende Gefühl. Die Fülle der Entscheidungen in der aktuellen Multioptionsgesellschaft sind in Kombination mit den Optimierungsansprüchen bezüglich Selbstverwirklichung die neuen Risikofaktoren für psychische Stabilität.

Auch im Arbeitskontext ist dieses Phänomen von Bedeutung. Arbeit muss nicht nur finanziell die Lebensgrundlage und über Zugehörigkeit den sozialen Status sichern, sondern, zumindest im hochqualifizierten Segment der Bevölkerung, auch intellektuell bereichernd und sinnstiftend sein.

Immer mehr junge gut ausgebildete Berufstätige messen ihre Arbeit an diesem Passion-Principle: Man muss sich für seinen Job begeistern können. Gleichzeitig hat der Wunsch nach einer ausgewogenen Work-Life-Balance auch die Highperformer erreicht. Immer weniger Menschen sind bereit, allzu große Opfer für ihre Karriere zu erbringen. Freizeit, Freunde und Familie müssen ebenfalls einen gebührenden Platz im Leben einnehmen. Wenn Arbeit aber in immer weniger Zeit immer höhere Erwartungen erfüllen muss, ist die Enttäuschung programmiert. Dies hat weniger mit den Merkmalen der modernen Arbeitswelt zu tun als mit der Überfrachtung mit Erwartungen. (Elisabeth Wagner, 12.10.2021)