Das Ensemble der Theaterarche, Wien Mariahilf, Münzwardeingasse 2a, in einem besinnlichen Moment während seiner großen Fahrt ins Epische.

Foto: Jakub Kavin

Es ist kein Zufall, dass die Premiere von Odyssee 2021 in der Theaterarche am 11. September stattfand. Denn es waren die Jahrestage von 9/11 und Fukushima (11. März), aber auch Werke von Joyce, Homer und Dostojewski, die Theaterleiter Jakub Kavin zu seiner ganz persönlichen Irrfahrt inspirierten.

So entstand mit einem 15-köpfigen Ensemble aus den unterschiedlichsten Disziplinen ein dreistündiger Stationentheaterabend, während dessen das Publikum seine eigene Odyssee erlebt.

Das beginnt schon beim Treffpunkt, der bei jeder Vorstellung im sechsten Bezirk wechselt. Wo genau der Theaterabend beginnt, erfährt man erst beim Ticketkauf.

Zwei Raskolnikows im Pub

Nach dem Prolog mit Texten von Homer im öffentlichen Raum begleiten Charaktere aus James Joyces Ulysses, Sophie Reyers Odyssa und Homers Odysseus die Publikumsgruppe in die Theaterräumlichkeiten, wo man 2019 das ehemalige Theater Brett abgelöst hat.

Daran besteht kein Zweifel: So gut wie jede Biografie verläuft als eine Irrfahrt. Weil sie also immer noch alle angeht, ist die Odyssee gerade das große Thema in der Theater-Arche.
Foto: Jakub Kavin

Hier in der Münzwardeingasse fand auch die erste Aufführung nach dem ersten Lockdown im Mai 2020 statt. Und hier wird das Publikum in drei Gruppen geteilt. Sie erleben die Stationen dieser Odyssee in unterschiedlicher Reihenfolge.

So erfahren alle den gleichen Abend in einer eigenen Anordnung. Bewusst irreführend sind auch die Aufteilung und die Ausstattung der Räume: Im "Antiken Labyrinth", dem Theaterfoyer, finden sich ausschließlich zeitgenössische und moderne Autorinnen und Autoren. Im "Irish Pub" meint man zwar, James Joyces Ulysses vorzufinden, trifft aber auf zwei Raskolnikows aus Dostojewskis Schuld und Sühne, die über ihr wahres Ich diskutieren.

Im Spiegelraum des "Boudoirs", von Schuld und Sühne inspiriert, findet man schließlich die Romanfigur Leopold Bloom in seinem Bewusstseinsstrom durch Dublin.

Im Theatersaal treffen alle auf einander: Die Zuschauergruppen finden sich dort zunächst für eine Tanzperformance basierend auf Dantes Inferno ein, ehe im gut 75 -minütigen Finale sieben zeitgenössische Autorinnen auf drei männliche Autoren der Weltliteratur treffen.

Foto: Jakub Kavin

Der dreistündige Abend findet ohne klassische Pause statt, die machte Odysseus auf seiner 20-jährigen Fahrt ja auch nicht.

Um die Odyssee auch wirklich ins 21. Jahrhundert zu holen, lud Kavin sieben Autorinnen ein, je eine moderne, weibliche Version des Odysseus-Mythos zu schreiben.

Penelope als Teenager

Daher kommen in sieben Monologen vier Odyssas, zwei Penelopes und James Joyces Tochter Lucia zu Wort. Sie stellen sich als weibliche Gegenstimmen dem antiken Helden, dem blinden Seher Teiresias (Claudio Györgyfalvay, Bernhardt Jammernegg) sowie den Charakteren von Dostojewski und Joyce.

Penny, eine Teenieversion von Penelope, wird von der jüngsten Darstellerin im Ensemble verkörpert. Die 17-jährige Amélie Persché setzt sich in einem Text von Theodora Bauer mit dem Schicksal der berühmten Ehefrau des Odysseus auseinander: "Sie haben mir gesagt, ich muss warten. Ich muss immer warten. Ich hasse warten. Sie haben gesagt: Penny, das gehört sich nicht. Beruhig dich. Deine Zeit wird kommen. Und ich soll warten, bis meine Zeit kommen wird. Ich will nicht warten."

Foto: Jakub Kavin

Eine der Odyssas wird von Manami Okazaki gespielt, der Co- und musikalischen Leiterin des Theaters Arche. Sie nimmt sich eines Texts von Lydia Mischkulnig an, die auf Wunsch von Kavin ihre persönliche Erfahrung der Fukushima-Katastrophe miteinfließen ließ, die sich zum zehnten Mal jährt: "Sie hat alles verloren. Das ist ihr nach und nach bewusst geworden. Sie hätte nie ein Schiff bestiegen. Sie wäre nie zurückgekommen in ihre Heimat, sondern dort geblieben und hätte diese Irrfahrt nie unternommen. Zurückkunft ist furchtbar."

Eine Stimme verleiht die Lyrikerin Margret Kreidl Joyces Tochter Lucia, einer Tänzerin, der mit 30 Jahren Schizophrenie diagnostiziert wurde und die ihre restlichen 50 Lebensjahre in psychiatrischen Anstalten verbrachte. Ihr verleiht Pia Nives Welser Ausdruck, der Text reiht, lose dem Alphabet folgend, Assoziationsketten aneinander.

Dostojewski-Experiment

Die Rolle der Weiblichkeit in dem Gesamtepos untersucht auch Nadja Puttner mit ihrem Tanztheaterstück Mythos. The Beginning of the End of the Story. Diese Arbeit ist Teil des Odyssee-Festivals, das sich rund um das Stationentheater mit weiteren Performances formiert.

Foto: Martina Stapf

Zum Beispiel Dropping Anchor des Wiener Kollektivs Klaus, ein Tanzstück über Nähe und Orientierung in Zeiten der Veränderung. Und eine Auseinandersetzung des Improvi sationstheaters Peekaboo mit dem Thema des Scheiterns.

Anlässlich seines 200. Geburts- und 140. Todestages gibt es einen Dostojewski-Schwerpunkt: das Stück Idioten mit Andreas Simma und Yorgos Pervolarakis sowie die Eigenproduktion Das Dostojewski Experiment, eine Textcollage unter der Leitung von Jakub Kavin. (Katharina Stöger, 9.10.2021)