Der gebürtige Kärntner lebt und schreibt heute in Innsbruck: Alois Hotschnig, unter anderem Erich-Fried- und Italo-Svevo-Preisträger.

Foto: Rupert Larl

Gegenüber Gefolgsleuten zeichnete sich die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) durch ein hohes Maß an Zuvorkommenheit aus. Für die schwangere Norwegerin Gerd hat die Nazi-Bürokratie anno 1942 sogar eine Reise arrangiert: heim ins Reich. Gerd ist durch den Wehrmachtssoldaten Anton in glücklichen Umständen. Die Familie des Vorarlberger Besatzers beteuert hoch und heilig, Gerd in Hohenems empfangen und als Schwiegertochter in die Arme schließen zu wollen.

Der Weg durch das nazifizierte Europa ist weit. Prompt bittet der NSV-Reiseplaner alle Dienststellen fürsorglich, dem "Fräulein Hervold" auf ihrer Route, wenn nötig, behilflich zu sein. Doch die Norwegerin schlägt brutal auf im Ländle. Aus der erhofften Heirat wird nichts. Ihr Sohn kommt im Dezember 1942 zur Welt. Er wird, zu Ehren des Reichsführers SS Heinrich Himmler, Heinz genannt.

Heinz bedarf jetzt eines anderen, vertrauenswürdigeren Fürsprechers, als es die Lebensborn-Einrichtung für ihn gewesen sein kann. (In dieser fanden Kinder von SS-Soldaten und Wehrmachtsbesatzern ein Unterkommen.) Autor Alois Hotschnig gibt ihm zu sagen, was er leidet: Er erzählt Heinz’ Schicksal aus der Ich-Perspektive. Und es scheint, als gäbe es auf die Fragen des Gealterten nur unbefriedigende Antworten.

Vergebliche Anläufe

Alois Hotschnig hat sich zwölf Jahre lang in Schweigen gehüllt vor dem Erscheinen von Der Silberfuchs meiner Mutter. Sein Schreiben genügt nur auf den ersten Blick dem Imperativ der NS-Bewältigungsliteratur: indem er vorgibt, scharfkantige Steinchen der Erinnerung aufeinanderzutürmen.

Doch die Reise zurück an den Ursprung bleibt ebenso rätselhaft wie fragmentarisch. Die Sätze nehmen in dieser Beichte vergebliche Anläufe. Ihr Sprecher zaudert, fällt sich selbst ins Wort. Er kann die Monstrosität der eigenen Behauptungen schwer fassen: Dann streut die "schöne" Mama ihrem Buben Putzmittel (Ata) aufs Essen. Oder Klein Heinz beobachtet, wie geschlachtete Hühner ohne Kopf vor ihm herumlaufen.

Das von Hotschnig rekonstruierte Land hinter dem Arlberg ist nur mühsam auf den Begriff zu bringen. Man kann von der Zeit vor 1945 nicht sprechen, ohne an die preisgegebenen jüdischen Mitbürger zu denken, an die Zwangsarbeiter, die Hilfsbedürftigen, die der Euthanasie zum Opfer fielen.

Heinz, das Produkt einer Liebesepisode, landet endgültig in Lustenau. Es sind jetzt ungeschlachte Bauern, die überdimensionale Schatten auf das geängstigte Kind werfen, die ihm – buchstäblich – die Finger verbrennen. Erst ist die Mutter weg, dann wieder da: Sie erleidet epileptische Anfälle. Heinz kauert sich während dieser Erschütterungen an ihrer Seite nieder. Er schüttelt sich, wie unter Nachahmungszwang, als werbe er um sie.

Ein Stiefvater entpuppt sich als Dracula, der allnächtlich durch die Decke bricht. Immerzu gerät Heinz, nachmals Theatermime in der saarländischen Provinz, außer sich. Er spricht von "Blitzeinschlägen", vom "guten Wetter im Kopf". Er steckt, kurz gesagt, voller Ausdruckskraft. Irgendwann erscheint ihm tatsächlich der leibliche Vater. Dieser trägt, ein angesehener Fleischhauer, die Schweinehälften wie "Flügel" über den Schultern.

Ein Mensch ohne Halt und inneren Kompass sucht nach seiner Mitte: Hotschnigs Kunstgriff besteht in der vermeintlich mangelhaften Sortierung von Realitätspartikeln. Auf seiner Spurensuche sammelt der Erzähler ein Sortiment von Rechtfertigungen. Er bekleidet die Spukgestalt der eigenen Mutter mit dem "Silberfuchs", dem Pfand einer flüchtigen Begegnung, aus der nichts anderes resultiert als das Eingeständnis absoluter Kontingenz: "So vieles ist offen", gibt Heinz gegen Ende hin zu Protokoll.

Da ist er als Schlemihl durchs Ländle und durch den süddeutschen Raum gewandelt, auf den Luftschuhen der Erzählkunst, immerzu auf der Suche nach dem eigenen Schatten. Er wird zum Textilarbeiter, zum Pfleger, zum Darsteller mittlerer Rollen auf irgendwelchen Staatstheaterbühnen. Von jeder Fürsprache entblößt, bleibt dieses veruntreute Kind auf sich allein gestellt, einsamer noch als Andersens Mädchen mit den Schwefelhölzern.

Verlust der Anziehung

Zugleich glitzern seine Lebenssplitter wie funkelnde Einträge im nächtlichen Himmel. Das Erbe der verstörten Mutter aber besteht im Verlust des gravitativen Kerns: Seit sie auf ihrer Reise von Norwegen nach Hohenems in Berlin verunfallt war und Epilepsie bekam, "seit damals kann ich fliegen, und seit ich fliegen kann, bekomme ich die Füße nicht mehr auf den Boden".

Ohnmächtiger und zugleich stolzer kann man die Anmaßung jeglicher Blut-und-Boden-Ideologie nicht von sich weisen. Alois Hotschnig (62), der Schöpfer von Leonardos Hände und Ludwigs Zimmer, hat sich auf die Spuren einer "wahren" Geschichte geheftet: die eines Schauspielers am Landestheater Innsbruck. Er hat sich damit als Erzählkünstler eindrucksvoll zurückgemeldet. (Ronald Pohl, 9.10.2021)