Die Bedrohung der Demokratie unter dem Deckmantel der Liebe zum Vaterland. Hier ein Sittenbild von einer Demonstration der Identitären in Deutschland 2019.

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Die berühmte rote Pille ist seit dem Science-Fiction-Klassiker The Matrix von 1999 zu einem beliebten und auch gern missbrauchten Befreiungssymbol der Popkultur geworden. Die blaue Pille, die Protagonist Neo jedenfalls in The Matrix neben dem roten Gegenstück angeboten wird, um weiterhin ein angenehmes Leben im Schlaf der Vernunft zu verbringen, wird von ihm abgelehnt. Die rote Pille, nach deren Einnahme man die Wahrheit über das "System" erkennt, in dem man gefangen ist, ist zu verlockend. Sobald die Tablette wirkt, werden die Zeiten also zu interessanten.

Es geht in Hari Kunzrus Roman Red Pill um nichts Geringeres als die Wahrheit. Mit der Wahrheit aber, deren Erkenntnis zur Freiheit führen soll, ist es so eine Sache. Immerhin leben wir im Zeitalter der alternativen Fakten. Und Wahrheit findet im Leben immer im Plural statt. Der Große Bruder überwacht und manipuliert zwar mittels der kleinen Dinge. Er hat sein Zuhause im Taschentelefon und in den Social Media gefunden. Allerdings muss er bis zur vollen Machtentfaltung erst einmal für Chaos in der Gemeinde sorgen. Nur aus dem Chaos kann ein totalitärer Heilsbringer aufsteigen und seine gottgleiche Macht entfalten.

Hinein in die Finsternis

Der britische Schriftsteller Hari Kunzru war für seinen neuen Roman Red Pill für einige Monate Stipendiat einer Kultureinrichtung in Berlin. Was liegt näher, als so einen Aufenthalt literarisch zu verarbeiten? Sagen wir so, es geht in Red Pill um einen Autor aus New York, dessen beste Jahre laut Selbsteinschätzung hinter ihm liegen. Er ahnt, dass es von nun an "auf einem leicht abschüssigen Pfad hinein in die Finsternis" gehen wird.

Der Berlin-Aufenthalt kommt dem einigermaßen unsympathischen Helden gerade recht. Daheim mit Frau und Kind läuft es nicht so gut, weil man ja auch nicht dauernd Emotionen an Menschen verschenken will, die ohnehin für einen da sind. Und vielleicht spürt der namenlose, nach Berlin geflüchtete Protagonist in Berlin dann doch, dass er abseits familiärer Enge ein neues großartiges Buch in sich trägt.

Statt dort das Partyleben zu dokumentieren, führt uns die Ich-AG, die stilistisch mit allen Wassern der Ich-Form gewaschen ist, in einem linear erzählten Roman ein wenig autobiografisch angehaucht durch die Stadt. Lonely Planet auf Kultur. Die Villa am Wannsee, in der von den Nazis die "Endlösung" beschlossen wurde, kommt vor – oder auch das Grab von Kleist, über den man neben bildungshuberisch eingestreuten Zitaten von Adorno oder Hegel viel nachdenken muss.

Alternative Wahrheiten

Es geht schließlich im von deutschem Boden aus gestarteten Projekt um die "Konstruktion" des "lyrischen Ich". Dieses Thema führt den Autor bald in die Bereiche von Fake-News, alternativen Wahrheiten und politischen Manipulationstechniken. Dann geht es aber doch erst einmal zu einer Party der Berliner Filmfestspiele. Hier klingelt das Christkind heftig zur Bescherung.

Neben diversem zwangsoriginellem Metropolenpersonal und kreativen Bodentruppen, die von Kunzru zwecks Flairvermittlung abgehandelt werden, taucht etwa auch ein ehemaliger afrikanischer Kindersoldat auf, der jetzt als Rapper Karriere macht. Krawuzikapuzi. Vor allem aber wird es in diesem Buch von nun an um den jungen US-amerikanischen Fernsehproduzenten "Anton" gehen. Der sympathisiert mit der AfD und den Identitären. Er produziert die Erfolgsserie Blue Lives, ein zynisches Reality-TV-Gegenstück zur Black-Lives-Matter-Bewegung. Die Serie zeigt rassistische Cops und ihre brutalen, aber gerechten Einsätze und Verhöre. Ihnen soll eben auch "eine Stimme" gegeben werden. Die reaktionären und identitären Inhalte sorgen für Quote.

Die Geschichte des Faschismus, der Nazigräuel und die Frage, wie Diktaturen aus einer liberalen Gesellschaft heraus entstehen können, stehen nun im Mittelpunkt des Romans. Hier wird es interessant. Allerdings kommt das Ganze mit all seiner Bildungshuberei von den Nürnberger Rassegesetzen über Zitate aus der deutschen Romantik bis zu Willy Brandt auch erheblich didaktisch daher. Literatur aber, die gut sein will, ist meist nicht besonders gut. Die rote Pille ist geschluckt, ein gewisser Donald Trump gewinnt am Ende in den USA die Wahl. Ein politischer Schauerroman. (Christian Schachinger, 9.10.2021)