Die Handlungsfähigkeit von Sebastian Kurz als Bundeskanzler sei "infrage gestellt", erklärte Werner Kogler Donnerstagfrüh. Damit beendete der grüne Vizekanzler de facto die Zusammenarbeit mit dem aktuellen ÖVP-Chef. Seither steht die Koalition auf der Kippe, die Politik und ihre Akteurinnen und Akteure unter Hochspannung.

Wie es weitergeht, ist völlig offen: Neuwahlen, eine Vierparteienregierung oder ein Expertenkabinett? Szenarien gibt es viele. In allen spielt der Bundespräsident eine Rolle. Doch Alexander Van der Bellen ist nicht der einzige Player, der in den kommenden Tagen und Wochen über die Zukunft des Landes entscheiden könnte.

Alexander Van der Bellen hat in der Regierungskrise das Heft in der Hand. Nicht nur nach einem Misstrauensvotum wäre der Bundespräsident am Zug – er kann auch selbst aktiv werden.
Foto: APA / Georg Hochmuth

Ein Überblick, wer nun die Entscheidungen in dieser Regierungskrise treffen könnte.

1. PARLAMENT

Sebastian Kurz kennt das Prozedere schon, das ihm am Dienstag bei der Sondersitzung im Nationalrat blüht. Er ist der einzige Kanzler der Zweiten Republik, der schon einmal sein Amt räumen musste, weil er das Vertrauen des Nationalrats verloren hatte. 2019 richtete sich der erfolgreiche Misstrauensantrag allerdings gegen die gesamte ÖVP-geführte Regierung nach dem Platzen von Türkis-Blau auf Ibiza.

Der anstehende rot-blau-pinke Misstrauensantrag wird aber – so wie es aktuell aussieht – primär gegen den türkisen Regierungschef gemünzt sein. Diskutiert wird aber auch ein etwas weiter reichender Misstrauensantrag, der neben Kurz auch andere Regierungsmitglieder des engsten türkisen Führungszirkels wie Finanzminister Gernot Blümel umfasst.

Da die Grünen Kurz mittlerweile für amtsunfähig halten, führt wohl kein Weg daran vorbei, dass sie am Dienstag mit der Opposition gegen den Kanzler stimmen, der von sich aus nicht abtreten will. Rechnerisch bräuchte es für eine Mehrheit sogar nur sechs grüne Abgeordnete, die Kurz misstrauen – die werden sich sicherlich finden, wie eine Zusammenschau grüner Wortmeldungen seit Donnerstag zeigt.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der Kurz übrigens jederzeit auch von sich aus entlassen könnte, muss den Kanzler daraufhin des Amtes entheben und zur vorläufigen Fortführung seiner Aufgaben einen Nachfolger aus der Regierungsriege ernennen.

Das dürfte voraussichtlich Vizekanzler Werner Kogler sein, zumal sämtliche ÖVP-Minister angekündigt haben, nur mit Kurz in der Regierung zu bleiben. Auch die eigentlich parteilosen Minister Heinz Faßmann und Martin Kocher haben die entsprechende Erklärung für Kurz unterschrieben. Demnach würde das verbleibende ÖVP-Regierungsteam nach der Abwahl des Kanzlers von sich aus zurücktreten.

2. BUNDESPRÄSIDENT

Eine Art grüne Minderheitsregierung wäre nach dem Ausscheiden der ÖVP nicht tragfähig. Bundespräsident Alexander Van der Bellen wird sich also ab Mittwoch wohl bemühen müssen, eine neue Kanzlerin oder einen neuen Kanzler zu ernennen und eine mit ihr oder ihm abgestimmte Regierung zu bilden. Der Spielraum des Staatsoberhaupts ist dabei theoretisch riesig, er kann irgendeinen belieben wahlberechtigten Österreich oder eine wahlberechtigte Österreicherin ins Kanzleramt befördern.

Praktisch wird es jedoch weitaus schwieriger: Van der Bellen wird danach trachten müssen, eine stabile Regierung zu finden, die nicht prompt wieder an einem Misstrauensantrag zerschellt. Sie wird also den Rückhalt der Abgeordnetenmehrheit benötigen. Ohne ÖVP geht sich das nur bei einer Kooperation von Sozialdemokraten, Freiheitlichen und Grünen aus, wobei die Neos als vierte Partei obendrein ihre Mitwirkung für eine neue Regierung angeboten haben.

Ein klassisches Koalitionsabkommen von Rot-Blau-Grün-Pink ist angesichts der massiven inhaltlichen Unterschiede allerdings fast ausgeschlossen. Selbst losere Formen der Zusammenarbeit dürften aber äußerst schwierig werden. Eine Vierparteienregierung mit FPÖ-Vertretern auf der Ministerbank ist aus Sicht der anderen Parteien schon an sich kaum vorstellbar. Dazu kommt noch die blaue Corona-Verharmlosung, die die Bekämpfung der Pandemie konterkariert.

Einer rot-grün-pinken Regierung, die von der FPÖ bloß geduldet – also nicht mit Misstrauensanträgen bekämpft – wird, kann wiederum FPÖ-Klubchef Herbert Kickl nichts abgewinnen. Für ihn komme nur eine Kooperation "auf Augenhöhe" infrage, seine Partei werde sich nicht mit einer "Nebenrolle" abspeisen lassen.

Van der Bellen könnte nach den Erfahrungen des Post-Ibiza-Kabinetts unter Brigitte Bierlein im Jahr 2019 auch wieder auf das Modell einer parteifreien Expertenregierung setzen, manchmal auch als "Beamtenregierung" bezeichnet. Rechtlich macht es aber keinen Unterschied, mit welchem begrifflichen Stempel man eine Regierung versieht: Auch für eine "Expertenregierung" ist der Rückhalt der Abgeordnetenmehrheit unabdingbar. SPÖ, Grüne und Neos wären dazu mitunter bereit, doch Kickl schlug auch hier am Freitag mit Blick auf die Vergangenheit abweisende Töne an: Die letzte Expertenregierung sei eine einzige "Enttäuschung" gewesen.

3. WÄHLERINNEN UND WÄHLER

In dieser Gemengelage eine stabile Regierung unter Umgehung der ÖVP zu formieren wird jedenfalls eine komplizierte Aufgabe. Und selbst wenn sie gelingt, wird diese Regierung wohl nicht bis zur nächsten regulären Wahl 2024 amtieren können. Ohne fixe Koalitionsvereinbarung lassen sich längerfristig abgestimmte politische Projekte nicht umsetzen. Zudem kann eingedenk der bunten und konfliktträchtigen Parteienkonstellation jederzeit eine der Stützen wegfallen und eine erneute Regierungskrise heraufbeschwören.

Früher oder später wird sich also wohl eine Nationalratsmehrheit für den Beschluss von Neuwahlen finden. Welche das sein könnte, wird stark von der Dynamik der Entwicklung, der jeweiligen Kampagnenfähigkeit der Parteien und ihrer Umfragewerte abhängen. Derzeit erklären SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner und Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger, keine Neuwahlen anzustreben.

FPÖ-Obmann Kickl schielt hingegen schon eher auf einen Urnengang, um die blaue Wahlschlappe 2019 vergessen zu machen. Er habe "keine Angst vor den Wählern", sagte er, wiewohl durchaus Konkurrenz von einer Impfgegner-Partei wie der in Oberösterreich reüssierenden MFG drohen könnte. Auch Sebastian Kurz wird nach einer Absetzung vermutlich auf rasche Neuwahlen drängen und sich dabei trotz aller Korruptionsvorwürfe den ersten Platz für seine ÖVP ausrechnen.

Der frühestmögliche Termin für vorgezogene Nationalratswahlen wäre Anfang 2022, heuer ginge es sich wegen der Fristenläufe nicht mehr aus.

4. ÖVP

Obwohl sie wie die unwahrscheinlichste Variante klingt, wäre sie gleichzeitig die schnellste, bei der sich am wenigsten ändern würde: Beenden könnte die Koalitionskrise auch die Volkspartei – schließlich stoßen sich die Grünen nicht an der türkis-grünen Zusammenarbeit, sondern am durch Korruptionsvorwürfe beschädigten Kanzler.

Eine zumindest vorläufige Auswechslung von Kurz gegen einen anderen ÖVP-Kanzler könnte die Lage beruhigen und den Misstrauensantrag obsolet machen. Allerdings stellen sich weiterhin alle maßgeblichen Akteure in der ÖVP hinter Kurz. Zwar tauchen täglich neue Chats aus dessen engstem Kreis auf. Bewegung in der ÖVP ist aber noch nicht in Sicht. (Theo Anders, Oona Kroisleitner, 9.10.2021)