Anstoßen zur letzten Happy Hour: Zuzugsberechtigt ist nur, wer zumindest das 55. Lebensjahr abgeschlossen hat. Mehr als 3000 Klubs und Vereine bieten Sport, Freizeit und Zerstreuung. Tageszeitung und Radiosender hingegen werden vom gleichnamigen Familienunternehmen The Villages Inc. kontrolliert.Foto: Catpics

Foto: Catpics 2021

The Villages ist mit 142 Quadratkilometern größer als Graz.

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Fokussierter Blick nach vorn, Augen zusammengekniffen, auf dem Kopf ein schwarzes Baseball-Käppi, Aufnäher von der National Rifle Association, "NRA Instructor", darüber schwarze Ohrenschützer – und dann Schuss, und noch einer, Volltreffer ins Schwarze. "Ich habe heute fast mehr zu tun als in meinen Berufsjahren", sagt Terry Marksberry in der zehnten Minute. "Bei mir ist fast jeden Tag etwas los. Dieser aktive Lebensstil hält einen jung. Hier sitzt man nicht auf seiner Veranda im Schaukelstuhl. Oh nein, so funktioniert das hier nicht."

Wohnen für alle ab 55

The Villages ist die größte Rentnersiedlung der Welt und zugleich das schnellstwachsende Stadtgebiet der USA. Mehr als 150.000 Pensionistinnen und Pensionisten haben hier, im Herzen Floridas, eine Autostunde nordwestlich von Orlando, ein Zuhause gefunden, in dem sie nun ihren Lebensherbst verbringen. Wohnberechtigt ist, wer zumindest das 55. Lebensjahr abgeschlossen hat.

Die meisten bleiben hier bis zu ihrem Tod. "Sowieso. Ich wüsste gar nicht, wo ich sonst hingehen sollte", sagt Terry schulterzuckend, 80 Jahre alt, jung geblieben wie nur was. Und Schnitt.

Aneinander vorbeileben

"Streng genommen ist The Villages aber nicht einmal eine Stadt, geschweige denn eine politische Gemeinde", sagt Valerie Blankenbyl, "sondern ein Entwicklungsgebiet eines mittlerweile sehr großen und sehr mächtigen Familienunternehmens. The Villages Incorporated kauft seit den 1980er-Jahren permanent Land an und hat sich auf diese Weise auf die beinahe doppelte Fläche von Manhattan vergrößert." 142 Quadratkilometer privates Firmengelände, öffentlich ist hier nur eine Handvoll Straßen und Plätze.

Seit 2014 forscht die 37-jährige Filmemacherin bereits an urbanen Strukturen, in denen alte und junge Generationen aneinander vorbeileben. 2017 nahm das Projekt konkrete Formen an, 2019 haben nach jahrelanger Recherche die Dreharbeiten begonnen. Immer wieder wurden dem Filmteam seitens The Villages Inc. Steine in den Weg gelegt, mitsamt Drohungen und Rufschädigung in der ganzen Stadt.

Nun ist der 950.000 Euro teure Dokumentarfilm endlich fertig. Am Dienstag war Premiere im Wiener Votiv-Kino. Seit Freitag läuft The Bubble österreichweit in den Kinos.

"Es ist eine schöne Blase"

"Wir wissen, wir sind hier in einer Bubble", sagt Toni Hyde, eine fesche alte, mehrfach auf dem OP-Tisch verjüngte Frau, die mit ihrem BMW-Cabrio in die Disco fährt, um dort live zu singen. "I want a little sugar in my bowl. I want a little sweetness down in my soul." "Aber es ist eine schöne Blase."

Später im Film wird man sie mal ohne Perücke sehen, die melierte Schönheit in der Hand haltend, mit der Bürste durchkämmend. "Es ist eine wunderbare Sache. Man geht in den Supermarkt, in den Nachtclub oder auf den Golfplatz, und alle sind in unserem Alter. Wir denken also gar nicht an das Alter. Wir sind alle gleich."

54 Golfplätze

The Villages bietet 54 Golfplätze, 70 Swimmingpools, 96 Freizeitzentren und mehr als 3000 Klubs und Vereine. Auch der Vorspann des Films, in dem nach einer strengen Choreografie sieben Golfcarts plötzlich gleichzeitig auf die Straße hinausrollen und – von einer Drohne gefilmt – im Gänsemarsch durch die Stadt fahren, wurde in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Golf Cart Precision Drill Team gedreht, erzählt die Regisseurin.

Man lacht, man schüttelt den Kopf, man erwischt sich selbst dabei, wie man die hier lebenden Menschen – wie so oft im etwas strangen Make-it-great-again-America – verächtlich bemitleidet. Alles sehr lustig. Eh klar.

Doch die größte Qualität von The Bubble besteht darin, dass der Film die vordergründige, oberflächlich humorvolle Sozialblase nach nicht einmal einer Viertelstunde erstmals zum Platzen bringt. Seit geraumer Zeit betreibt das von Harold S. Schwartz gegründete und nun in dritter Generation geführte Familienunternehmen The Villages Inc. eine aggressive Expansionspolitik, bei der mit Scheinfirmen und versteckten Tochterunternehmen den Großgrundbesitzern das Land abkauft und die für Florida typischen Sumpfgebiete unter Umgehung von Bauvorschriften und Widmungsvorgaben mehr und mehr in Siedlungsretorten verwandelt werden.

Die Expansion stoppen

Und die Strategie wird von Jahr zu Jahr unappetitlicher: Grundbesitzer, die sich weigern, ihr Land und ihre Häuser zu verkaufen, und das oft unter Wert, werden von The Village einfach wie ein Krebsgeschwür eingekesselt und mit Mauern und Zufahrtsschranken zugebaut. In den nächsten zehn Jahren, so der Plan, soll sich das Rentnerparadies auf die Fläche von Orlando verdoppelt haben. Rund um The Villages haben sich zahlreiche Bürgerinitiativen gebildet, die mit allen Mitteln versuchen, die Expansion zu stoppen.

Zum Teil vergeblich. Manche Grundstücke haben längst die Besitzer gewechselt. "Was The Villages ausmacht? Sie wollen alles kontrollieren", sagt Lauren Ritchie, Journalistin und Kolumnistin für den Orlando Sentinal, eine der wenigen kritischen Stimmen, die sich trauen, namentlich aufzutreten. "Das ist ein wirklich seltsames soziales Experiment."

Andere, die im Film anonym bleiben, wurden von The Villages Inc. bereits erpresst und mehrfach bedroht. Die lokale Tageszeitung Daily Sun liegt fest in der Hand des Vorstands. Und aus den öffentlichen Lautsprechern auf Straßen und Plätzen dringen rund um die Uhr Musik, Werbung und Nachrichten von WVLG, FM 102,7, einem Partner von Fox News.

Surreale Wucht

"Künstliche Konstrukte wie The Villages sind eine Bedrohung für den Menschen und die Natur", sagt Valerie Blankenbyl. "Die Sümpfe verschwinden, die Moskitos werden mit Pestiziden ausgerottet, und aufgrund des hohen Wasserverbrauchs für die 54 Golfplätze ist der lokale Grundwasserspiegel rund um den Ort um bis zu drei Meter gesunken." Die Bilder von Kameramann Joe Berger, die diese Phänomene einfangen, sind eine surreale Wucht.

Gefahr sieht die Filmemacherin, die von den Anwälten von The Villages regelmäßig unter Druck gesetzt wurde, aber auch für die Gesellschaft: "Jeder von uns lebt in einer Bubble. Den Wunsch nach dieser Idylle kann man den Bewohnerinnen und Bewohnern von The Villages nicht vorwerfen. Die Kritik richtet sich an die Bau- und Immobilienwirtschaft, die diese monokulturellen und sozial radikalen, kaum durchmischten Strukturen fördert und als Sehnsuchtsort bewirbt." Am Anfang Lachen, am Ende Trauer und Wut. Ein Meisterwerk. (Wojciech Czaja, 10.10.2021)