So schön und so gefährlich: Amazons "New World".

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Es hat eine Weile gedauert, bis Amazons Games-Sparte einen Blockbuster produzieren konnte – doch nun ist er da: New World heißt das Online-Rollenspiel (MMORPG) des Konzerns, welches ordentlich für Gesprächsstoff an so manchem Gamer-Stammtisch sorgt. Doch ist das Spiel wirklich gelungen? Für wen ist es geeignet, wer sollte lieber die Finger davon lassen? Und was ist dran am Vorwurf vermeintlicher Kolonialfantasien? Der STANDARD hat keine Mühen gescheut und sich für diesen Test zu nachtschlafender Zeit durch die Dschungel von Aeternum gekämpft.

Verherrlichung der Kolonialzeit?

Bevor wir jedoch auf den Spielspaß per se eingehen, ist ein kurzer Blick auf Vorwürfe angebracht, die im Vorfeld des Releases entstanden sind. Denn New World ist in einem parallelgeschichtlichen Szenario angesiedelt und spielt in einer fiktiven Welt – die Parallelen zur Geschichte der Kolonialzeit sind aber unübersehbar. So geht es im Spiel darum, eine Welt voller Strände, Berge und Dschungel zu entdecken und zu besiedeln. Obendrein sind so manche Ausrüstungsgegenstände im Design den Eroberern der Kolonialzeit nachempfunden.

Unverwechselbares Element: Der Konquistadoren-Helm.
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Ureinwohner gibt es im Spiel hingegen nicht, stattdessen stoßen die zahlreichen Spieler – zu Beginn waren gleich 700.000 Personen online – auf wilde Tiere und allerlei Monster, vor allem Zombiepiraten. Ist das gut oder schlecht? Der Historiker Felix Zimmermann von der Universität Köln gab sich in dieser Hinsicht kritisch: Denn so werde das Bild einer unbewohnten Welt vermittelt, die man entsprechend ohne schlechtes Gewissen erobern könne – besser sei es gewesen, Ureinwohner in das Spiel zu integrieren, mit denen die Spieler friedlich interagieren können.

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Zur Verteidigung Amazons sei jedoch auf der anderen Seite betont, dass von einer "Verherrlichung" des Kolonialismus wahrlich keine Rede sein kann. Denn Aeternum ist eine unwirtliche Welt, in der allerlei Gefahren – vom Wolf bis zum Zombiepiraten – lauern. Da ist die Gegenwart unserer Welt doch wahrlich angenehmer, und das Erobern eines Kontinents maximal im Spiel eine reizvolle Tätigkeit.

Zudem liefert auch Amazon einen Disclaimer, wie man ihn von anderen historisch inspirierten Spielen wie Assassin's Creed kennt: Der Hinweis, dass es sich um ein Werk der Fiktion handelt, dass man sich bei der Darstellung von Kulturen von Experten habe beraten lassen und dass man dies auch in Zukunft so handhaben werde. Ob dies zur moralischen Rechtfertigung ausreicht, muss jeder Spieler für sich selbst entscheiden.

Spärlicher Charakter-Generator

Ich jedenfalls beschließe, New World weniger im Kontext kolonialistischer Fantasien zu sehen, sondern angesichts des Settings von Zombiepiraten in karibischem Ambiente mich lieber an vergangene popkulturelle Perlen zu erinnern. Dementsprechend heißt meine Spielfigur auch Elaine Threepwood (Elaine Marley war leider schon vergeben).

Das Geschlecht gehört auch zu den wenigen Dingen, die man im Charaktereditor festlegen kann. Ansonsten lassen sich noch kosmetische Änderungen an Gesicht und Körper festlegen, die in der Hitze des Gefechts aber kaum einem anderen Spieler auffallen dürften.

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Das war es schon. Bei New World gibt es keine Klassen, es werden zu Beginn keine Attribute vergeben und es gibt auch keine Start-Sonderfertigkeiten. Ist das schlimm? Nein, ganz im Gegenteil, wie sich schon bald heraus stellt: Denn bei New World wird der Charakter erst im Lauf des Spiels geformt.

Es gibt viel zu lernen

Ist der Avatar einmal generiert, geht es sogleich ab ins Geschehen – zumindest, sofern die Server standhalten. Denn kurz nach dem Release beklagten sich diverse Gamer über teils stundenlange Wartezeiten. Das ist natürlich besonders ironisch, weil Amazon selbst mit seinem Tochterunternehmen Amazon Web Services (AWS) einer der größten Anbieter im Bereich des Cloud Computing ist. Wie dem auch sei: Ich selbst musste diese Erfahrungen glücklicherweise nicht machen und landete sofort im Spiel.

Dieses beginnt mit einer Intro-Sequenz, bei der man mit einem Segelschiff in eine neue Welt aufbricht. Das Schiff sinkt jedoch, die Crew kommt ums Leben – nur mal selbst findet sich an einem Südseestrand wieder und trifft gleich mal auf ein paar Zombiepiraten, die es flugs zu erledigen gilt.

Anschließend gelangt man an einen Nichtspielercharakter (NPC), um den sich diverse Spieler versammelt haben. Es wird klar: Nun befinden wir uns im Multiplayer-Teil des Spiels und können so richtig loslegen. Der NPC schickt uns also los, um ein paar weitere Geisterpiraten zu erledigen und Gegenstände einzusammeln. Ist dies erledigt, entsendet er uns in die nächstgrößere Stadt. In dieser Stadt wiederum bekommen wir die Aufträge, Tiere zu erlegen, Bäume zu fällen und andere Rohstoffe zu sammeln. Wir lernen außerdem, wie man die einzelnen Rohstoffe bearbeitet und neue herstellt.

Endlich: Ich bin Teil einer Fraktion.
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Ich habe rund zwei Stunden gebraucht, um diese als Aufgaben verpackte Tutorials abzuschließen. Als letzter Schritt dieses Prozesses tritt man einer von drei Fraktionen bei, die um die Vorherrschaft auf Aeternum kämpfen. Da ich mit Nachnamen Threepwood heiße, entscheide ich mich für die Marodeure, welche ein wenig an Piraten erinnern.

Ist das Grinden – oder ist das schon die Story?

In weiterer Folge gibt es eine Hauptstory ebenso wie zahlreiche Nebenmissionen – und es fällt schwer, bei all der Masse an Optionen die richtige Wahl darüber zu treffen, wie man seine Zeit in Aeternum verbringen möchte.

So stellen die Städte diverse Aufgaben zur Verfügung, mit denen man sein Ansehen in der Region verbessern kann. Das ist vor allem wichtig, wenn man später ein bestimmtes Level erreicht und sich im besagten Örtchen ein kleines Haus kaufen möchte. Doch auch die Fraktionen locken mit diversen Aufgaben, für welche man wiederum Punkte erhält, die man gegen Gegenstände einlösen kann. Und diverse NPCs belagern uns mit weiteren Aufgaben, die wir für sie erledigen sollen, um ihr Leben in der neuen Welt angenehmer zu gestalten – im Gegenzug gibt es Erfahrungspunkte und neue Ausrüstungsgegenstände.

Die Hauptquest dreht sich hingen um eine finstere Macht, die sich auf der sonnigen Insel ausbreitet. Und die wir entsprechend bekämpfen müssen.

In der Waffenkammer der Marodeure gibt es viel zu holen.
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Neben dem etwas unangenehmen historischen Kontext sind die Quests und die Story die wohl größten Kritikpunkte, die man gegenüber New World aufbringen kann. Denn leider wirken die Aufgaben oft äußerst generisch.

Aussagen wie "Tote zehn Zombiepiraten", "Finde fünf Amulette" oder "Jage drei Hasen und fünf Truthähne" lassen nicht unbedingt einen Abenteuergeist verspüren und sind bei anderen Spielen dieser Art – spätestens seit dem Launch von The Elder Scrolls: Online im Jahr 2014 – einfach nicht mehr angesagt. Hier wäre es schön, wenn die Developer nachbessern.

Hier sind sehr viele Spieler der Quest "Errichte ein Lagerfeuer" nachgegangen.
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Auch die Hauptstory punktet nicht wirklich mit Kreativität. "Eine dunkle Macht, die sich langsam ausbreitet" kennen wir von so circa jedem zweiten drittklassigen Fantasyroman. Und auch hier wirkt es oft so, als müsse man bloß stumpf irgendwelche Aufgaben erfüllen. Vermittelt wird einem in Dialogen, dass man eine Art "Auserwählter" sei, der das Böse alleine bekämpfen muss – letztenendes kloppt man aber dann doch mit einem dutzend anderer Spieler auf irgendein Monster ein. Auch das ist in anderen Online-Rollenspielen schöner gelöst: Etwa in der Story-Elementen von Destiny 2, wo man in den entscheidenden Momenten auf sich allein gestellt ist und entsprechend in die Hauptgeschichte hinein gesogen wird. Auch hier gibt es also Potenzial.

Eine Frage des Charakters

Warum sollte man sich also überhaupt auf diese Missionen einlassen? Die Antwort ist zugleich der Grund dafür, dass New World durchaus ein herzeigbares Spiel geworden ist: Weil die gesammelten Punkte und Gegenstände dazu dienen, den eigenen Charakter weiter zu entwickeln und zu formen – und genau das ist das Kernelement des Spiels.

Ein Beispiel dafür ist das Hochleveln von Waffenfähigkeiten. Denn wenn man in New World eine Waffe oft genug verwendet, dann erhält man entsprechend Punkte, um diese hochzuleveln und Spezialfähigkeiten zu erlernen. Es gibt insgesamt elf unterschiedliche Waffentypen, die wiederum jeweils aus zwei Skilltrees bestehen. Was bedeutet: In diesem Spiel gibt es nicht – wie anderen Rollenspielen üblich – bloß einen einzigen Skilltree, sondern gleich 22.

Die Qual der Wahl im Waffenarsenal.
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Doch dabei bleibt es nicht. Außerdem können nach jedem Levelaufstieg noch Punkte an fünf unterschiedliche Attribute vergeben werden, die sich wiederum auf die Handhabung der Waffen auswirken...

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...diverse Fähigkeiten rund um das Craften und das Sammeln von Gegenständen wollen weiter entwickelt werden...

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... und auch einen Überblick über diverse Erfolge gibt es. Sowie den zuvor bereits angedeuteten "Gebietsruf", welcher die eigene Credibility in der jeweiligen Region darstellt.

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Und schließlich gibt es natürlich noch das Inventar. So sammelt man im Spiel immer wieder neue Gegenstände, Waffen und Kleidungsstücke, um mit der Zeit immer schicker auszusehen und mit immer stärkeren Waffen gegen das geheimnisvolle Böse vorzugehen.

Keine Pferde in der neuen Welt

Was in der Charakterentwicklung noch fehlt: Die Möglichkeit, sich ein Pferd oder ein anderes Reittier zuzulegen. Und das nervt ein wenig, zumal man in der neuen Welt so manch weiten Weg zurücklegen muss, um die Aufgaben zu erfüllen. Schnellreisefunktionen gibt es nur eingeschränkt.

Immerhin gibt es eine "Autorun"-Taste, mit welcher der Avatar selbständig geradeaus rennt. Wer also möchte, kann diese Funktion aktivieren, gechillt dabei den STANDARD lesen und bloß ab und zu mal den Kurs korrigieren.

Spieler-gegen-Spieler ist optional

Das Spieler-gegen-Spieler-Modell (PVP) wurde hingegen so gestaltet, dass es für jeden Spielertyp passend ist. Denn innerhalb von Siedlungen kann man mit dem Druck einer einzigen Taste einfach festlegen, ob man an den Kämpfen gegen andere Spieler teilnehmen möchte oder nicht.

Aktiviert man dies, so nimmt man außerhalb der Siedlungen an Gefechten gegen die Spieler der anderen Fraktionen teil. Deaktiviert man sie, so kann man diese getrost auslassen und muss sich nicht sorgen, auf dem langen Weg zum nächsten Quest von einem anderen Spieler abgestochen zu werden.

Fazit: Leider geil

Wem der modrige historische Kolonialzeit-Geruch zuwider ist, der sollte – wie eingangs erwähnt – um New World lieber einen großen Bogen machen. Und auch für Fans guter Geschichten ist das Online-Rollenspiel sicher nicht die beste Wahl, sie sind mit diversen Singleplayer-Games besser bedient.

Doch für Fans anderer Multiplayer-Rollenspiele haben sich die Befürchtungen leider bewahrheitet: New World ist so gestaltet, dass man sich stundenlang darin verlieren kann, noch schnell ein paar Bäume zu fällen oder eine Farm von Zombiepiraten zu befreien. Das macht per se schon manchmal Spaß, und die Entwicklung des eigenen Avatars ist vergleichbar mit dem Prozess, ein eigenes Kind heranwachsen zu sehen.

Wer sich hier nicht beherrschen kann und auf solche Dinge hereinkippt, dem ist vielleicht sogar gut geraten, das Spiel gar nicht erst zu installieren. Zu groß ist die Suchtgefahr. Zu groß das Potenzial, wertvolle Lebenszeit in einer virtuellen Welt zu verschwenden. Ich selbst werde mit gutem Beispiel vorangehen und das Spiel ebenfalls deinstallieren. Also... natürlich nicht sofort...

Erst muss ich noch meinen Gebietsruf erhöhen.

Dann muss ich mir ein Haus kaufen.

Dann muss ich das Haus einrichten.

Und dann das Böse besiegen.

Aber dann ist wirklich Schluss... Versprochen. (Stefan Mey, 10.10.2021)