Ausgelassene Tänze der Doppelmoral.

Karlheinz Fessl

Das Radikale an Arthur Schnitzlers Reigen war, dass die darin enthaltene Abrechnung mit der Doppelmoral in Sachen Sex ausnahmslos die ganze Gesellschaft gemeint hat. Das spielte bei den Skandalisierungen der Erstaufführungen 1920 und 1921 in Berlin und Wien nicht einmal eine Nebenrolle. Da ging es – es war die Gründungszeit der NSDAP – um die angeblich fremde kulturelle Identität des Autors und absurderweise um angebliche Pornografie. Dabei: Kein Bühnenwerk ist von Pornografie weiter entfernt als dieses.

Das treibt Miloš Lolićs Klagenfurter Neuinszenierung der zehn berühmten Dialoge auf die Spitze: Niemand berührt irgendwen, alle Untreueakte bleiben so virtuell, wie sie ja heute auch angebahnt werden können. Das allerdings wird auf äußerst anschauliche Art vermittelt: Man schminkt sich für das Date, man kostümiert sich in der allerskurrilsten Weise.

Der Paradigmenwechsel

Nur die für die Doppelmoral von heute erforderlichen Verrenkungen der Seele lassen sich nicht ganz verleugnen, weil sie sich zwei Stunden lang kichernd ein Ventil suchen. Nicht nur die Haut, der ganze Körper ist Kampfplatz der Neurosen. Es bräuchte wohl, wenn man diese Inszenierung ernst nimmt, einen zwischengeschlechtlichen Paradigmenwechsel, wenn nicht einen libidinösen Neuanfang. Dann fänden die Figuren über sich selbst vielleicht die Wahrheit und könnten einander wieder aufrecht begegnen.

So aber geschieht es wie hier: Der junge Herr (Felix Oitzinger) leckt die eigene Hand anstelle jener des Stubenmädchens (Petra Morze). Der Schriftsteller (Thomas Frank) reibt sich das Geschlecht, wenn die Schauspielerin (Heike Kretschmer) sich in Erregung redet. Der Graf (Axel Sichrovsky) kommt von vornherein so krumm daher, dass, dem Kopf weit voraus, sein Unterleib vorneweg in die Gegend ragt. So zelebriert es das ganze, vortrefflich organisierte Ensemble.

Die Menschenhasser

Es ist eine Welt von Onanistinnen und Onanisten. Die neue Doppelmoral ist nicht, dass man einander heimlich betrügt, sondern dass man einander gar nicht mehr braucht oder will, wie die Schauspielerin exemplarisch für alle gesteht: "Ich hasse die Menschen." Der Satz, der sich so auch im Originaltext findet, wird hier zentral. Lolić hat einige seiner bewährtesten Kräfte mitgebracht, die sich wunderbar frei austoben.

Diego De Ramón Sánchez gestaltet den Einheitsschauplatz als Labyrinth aus Taxushecken, zwischen denen steinerne Zeugen sinnlicherer Zeiten im Mondlicht baden. Nicht nur das Dunkel hilft, einander nicht sehen zu müssen – auch die skurrile Drapierung der Körper, die durch Schminke und Fantasiefrisuren verfremdet sind (Kostüme Jelena Miletić).

Jasmin Avissars Choreografie führt jede Figur schließlich durch ihre eigene Einsamkeit. Gemäß dem Titel Reigen erscheint die Szenenfolge als Rundtanz, zu dem alle die Quintessenz ihrer Texte am Schluss ihrer Auftritte auch noch singen (Musik Nevena Glusica).

(Michael Cerha, 11.10.2021)