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Lewis Hamilton wollte mehr Risiko.

Foto: AP/Bektas

Istanbul – Ganz so unflätig wie im Boxenfunk äußerte sich Lewis Hamilton ein paar Stunden nach dem Nackenschlag von Istanbul nicht mehr. Aus seinem Frust machte der Rekordweltmeister allerdings weiter keinen Hehl. "Ich bin jemand, der Risiken eingeht. Ich wäre das Risiko gerne eingegangen", sagte Hamilton und warf seiner Mercedes-Crew damit indirekt eine mutlose Taktik vor.

Hamilton, mit sieben WM-Titeln und 100 Formel-1-Siegen dekoriert, ist nun mal auf Erfolg gepolt. 15 Punkte für Platz drei sind logischerweise mehr als zehn für Rang fünf. Ein Punkt Rückstand auf Max Verstappen wäre leichter aufzuholen als sechs.


Doch was Hamilton auch mit etwas Distanz ausblendete, war seine mögliche Fallhöhe. Hätte er das Regenrennen auf dem Istanbul Park Circuit wirklich mit einem einzigen Reifensatz vom Start bis zur Zielflagge als Dritter beenden können? Oder wäre er am Ende von einem Kontrahenten nach dem anderen geschluckt worden? Oder wegen eines Reifenschadens gar ausgeschieden? Hypothetische Fragen, auf die Mercedes-Teamchef Toto Wolff eine angemessene Antwort zu geben versuchte.

"Wir haben gezockt", sagte Wolff, "erst auf eine trocknende Strecke und dann darauf, es bis zum Ende mit einem Satz auszuhalten." Gegen Rennende aber wurde Hamilton so langsam, dass das Team den Fahrer überstimmte, um zumindest Rang fünf abzusichern. Im Nachhinein, räumte Wolff ein, "hätte ich zehn Runden früher gestoppt und auf der Strecke um die Positionen gekämpft." Mit dieser Taktik wäre Hamilton "wahrscheinlich Dritter oder Vierter" geworden, mutmaßte der 49-Jährige.

Entscheidung der Vernunft

Im Poker von Istanbul traf der Kommandostand letztlich eine Entscheidung der Vernunft, das sieht auch Mario Isola so, der Formel-1-Projektleiter von Reifenhersteller Pirelli. Er glaube nicht, dass Hamilton "auf diesem Satz die Position hätte halten können", sagte der Italiener.

Die Analyse des Fachmanns bewahrte Mercedes allerdings nicht vor der heftigen Schelte einiger Medien. Wie "Nervenbündel" hätten die Strategen des Weltmeisterteams agiert, urteilte die Daily Mail, der Reifenwechsel sei "sinnlos" gewesen. "Mercedes ist schneller, aber nicht immer schlauer", kommentierte das Algemeen Dagblad schadenfroh.

Blaues Auge

Letztlich kam Hamilton dennoch mit einem blauen Auge davon, er verlor "nur" acht Punkte auf Red-Bull-Star Verstappen. In einem Rennen, in das der Weltmeister wegen eines Motorwechsels aus dem Mittelfeld starten musste. Auf einer Strecke, auf der Überholen schwierig ist.

Mut machen sollte dem 36-Jährigen die Pace seines Teamkollegen Valtteri Bottas. Der raste bei freier Fahrt von der Spitze zu seinem ersten Sieg seit über einem Jahr, machte Verstappen so sieben Zähler streitig und half Hamilton damit gewaltig.

Nervös

Es ist schon kurios: Verstappen holte sich die WM-Führung zurück an einem Wochenende, an dem er ohne realistische Siegchance war. Sein Boss ist bereits leicht nervös wegen der wiedergewonnenen Dominanz von Mercedes auf den Geraden. "Ihre Motorenüberlegenheit nimmt immer mehr zu", sagte Red-Bull-Teamchef Christian Horner: "Wir müssen unser Chassis optimieren, damit wir das zumindest ansatzweise ausgleichen können."

Die sechstletzte Station der Formel-1-Saison ist in zwei Wochen Austin in den USA, es geht viel geradeaus und schnell um die Kurve, es ist Hamiltons erklärte Lieblingsstrecke. Vielleicht hat der Weltmeister bald schon wieder bessere Laune. (sid, 11.10.2021)