Victoria Citterio-Sölle steht vor einer großen Entscheidung. Soll sie den Familienbetrieb übernehmen – oder nicht? Das Imperium "Wörld of Sölle", das sich vier Generationen in Kärnten aufgebaut haben, besteht mittlerweile aus mehreren Skischulen, einem Sporthandel und Skiverleih sowie einem Outdoorpark, Ferienwohnungen und geführten Bergtouren. Viele Jahre stellte sich diese Frage für sie gar nicht: Die 32-Jährige konnte sich nicht vorstellen, in die Fußstapfen ihrer Familie zu treten.

Doch das änderte sich kurz vor der Pandemie. Nach zehn Jahren im Berufsleben mit Stationen als Innovationsberaterin in einer kleinen Münchner Agentur und später als politische Beraterin bei den Neos, im Bürgermeisterwahlkampf in Mailand, im Bundeskanzleramt unter Christian Kern (SPÖ) und zuletzt drei Jahre in einem Berliner Start-up, fragte sich Citterio-Sölle: "Was ist eigentlich mein Wofür? Und will ich so weitermachen wie bisher?" Sie sah viele Sozialunternehmer, die im Einklang waren mit ihrem Job, doch sie spürte das nicht.

"Ich weiß, dass ich nicht ewig im Betrieb sein werde. Sobald sie übernehmen will, bin ich weg", sagt Vater Christian Sölle.

Foto: Ferdinand Neumüller

Also ging sie auf die Suche nach ihrem Wofür – und kam zum Punkt, "dass es da ja was zu Hause gibt, und ich kenne das eigentlich nicht". Sie habe immer das Gefühl gehabt, sie laufe mit einem Rucksack mit unbekanntem Inhalt herum, erzählt Citterio-Sölle. Im Dezember 2019 sagte sie ihrem Arbeitgeber, dass sie geht, im Juni 2020 war es soweit. Nun will sie den Rucksack auspacken und schauen, ob sein Inhalt etwas für sie wäre. Nur so könne sie entscheiden, ob sie die Nachfolge antritt. Vielen geht es ähnlich wie Citterio-Sölle und ihrem Vater Christian Sölle. Sie stehen vor der Frage: Wer übernimmt in wenigen Jahren den Betrieb, wenn die Eltern in Pension gehen?

Jedes zehnte Familienunternehmen in Österreich ist in der Phase vor der Übergabe, zeigen Erhebungen des Forschungsinstituts KMU Forschung Austria. In den vergangenen Jahren seien rund ein Viertel der Betriebe vor der Nachfolge gestanden. Weil Familienbetriebe in der österreichischen Wirtschaft weit verbreitet sind, könnten in der nächsten Dekade erfolgreiche Übergaben rund 404.000 Arbeitsplätze sichern, lautet der Bericht von 2020.

Doch viele Familienunternehmen haben Schwierigkeiten, eine Nachfolge zu finden. Studien zeigen, dass fast zwei Drittel der Nachkommen aus Unternehmerfamilien eine klassische Angestelltenlaufbahn anstreben. Nur die wenigsten interessieren sich für die Firma der Eltern, familienexterne Übergaben nehmen zu. In Österreich werden rund die Hälfte der Familienunternehmen familienintern übergeben. Generationenübergreifend tätig sind neun Prozent der Betriebe.

Erste Erfolge

Im Frühjahr 2020 zog Victoria Citterio-Sölle von Berlin ins Nassfeld, dazu pendelt sie nach Mailand, wo ihr Mann lebt. Ihr Vater Christian Sölle freute sich, als "Vicky" kam: "Ich bin froh, dass sie in der Corona-Zeit da ist und wir schauen, welche Spielräume wir haben." Ohne langes Onboarding wurde sie gleich eingeteilt: Sie sollte bei den Anträgen für die Corona-Hilfen unterstützen.

Mittlerweile konzentriert sich Citterio-Sölle auf die zwei Ferienhäuser mit Selbstversorger-Apartments. Sie will ihnen "ein bisschen Leben einhauchen, sie zu Homes machen". Und gleichzeitig will sie versuchen, "die einzelnen Systeme, die in der Firma genutzt wurden, zu hinterfragen, zu optimieren, ihnen ein neues Gewand zu verpassen". Sie überarbeitete das Buchungssystem, sodass die Gäste auch per App buchen und kontaktlos einchecken können, aber auch auf Whatsapp um 20 Uhr eine Frage zur Anreise beantwortet bekommen. Auch den Social-Media-Auftritt und die Webseite hat sie vereinheitlicht.

Die digitalen Kniffe zeigten sich in den Zahlen: "So einen Sommer wie heuer hatten wir noch nie – weil wir so viele Buchungen haben. Lange gab es am Berg auf über 1500 Metern keinen Sommertourismus, deshalb standen die Ferienwohnungen früher die Hälfte der Zeit leer", sagt Citterio-Sölle zu ihrem ersten Erfolg. Ein Grund liege aber auch darin, dass in der Pandemie viele kurzfristig im Inland auf Wanderurlaub fahren und lieber ein Apartment buchten als ein Hotel.

Ihr Vater ist jedenfalls stolz: "Sie hat die Kennzahlen weit übertroffen." Und: "Das klingt so banal mit Facebook oder der Homepage, aber da ist jetzt ein ganz anderer Drive dahinter", sagt Christian Sölle. Dass mit der jungen Generation auch mehr Tempo in die Digitalisierung kommt, zeigt auch eine Studie der Beratung KPMG. Sind zwei oder mehrere Generationen im Unternehmen gemeinsam tätig, würde verstärkt auf Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsmaßnahmen geachtet, so der Bericht.

Dieser Text ist am 21. Oktober 2021 im Der Standard Karriere Magazin erschienen.
Foto: DER STANDARD

Ohne Druck

Christian Sölle gefällt, dass seine Tochter Abläufe hinterfragt: "In einem Familienunternehmen macht man auch viel aus dem Bauch raus, weil man es jahrzehntelang so gemacht hat", sagt Sölle. Ebenso sei es gut, dass "sie alles einmal im Betrieb gesehen und gemacht hat, den Mitarbeitern taugt das total, wenn sie spüren, dass sie auch bei nervigen Aufgaben selber Hand anlegt". Er sieht es positiv, wenn seine Tochter ihre Ideen einbringt: beispielsweise das Ferienhaus für ein Yoga-Retreat zu vermieten. "Man muss auch sein eigenes Ding machen können", ist der 57-Jährige überzeugt. Er startete mit einem Tennisplatz, dann übernahm er vor 30 Jahren den Betrieb seiner Eltern. Bei Victoria sei es das Apartmenthaus, da "sollte der Senior nicht viel reinreden".

Über solche Dinge sprachen Vater und Tochter beim Wandern ohne Handy und Ablenkungen, beim Kartenspielen mit den Großeltern, auf Autofahrten zu Geschäftsterminen oder beim Abendessen mit der Familie. "Früher, als ich im Ausland gearbeitet habe, waren Papa und ich immer sehr wortkarg, das hat sich geändert", sagt sie schmunzelnd. Früher, wenn sie zu Besuch war, hätten sie aber bereits über die Zukunft des Familienunternehmens gesprochen. "Man kann die Rollen nie trennen. Ich bin mit dem Betrieb aufgewachsen", sagt die 32-Jährige. Nun fühle sich aber alles ernster an – obwohl es nie Druck zur Übernahme gegeben habe. Knapp vier Wochen hat sich die Familie 2020 Zeit genommen, um die jeweiligen Erwartungen und Aufgaben klarzustellen.

Das sei wichtig, denn als die ersten Gäste kamen, war es vorbei mit langen Gesprächen. Citterio-Sölle kümmerte sich um Buchungen, war zur Stelle, wenn ein Hund in die Eingangshalle gemacht hat, beriet Mitarbeiter beim Unfallbericht nach dem Mountainbike-Ausflug oder trug die Kasse zur Bank, als ihr Vater im Urlaub war. Die beiden vereinbarten Termine, um das zu besprechen, was sich in der Woche angestaut hatte – sonst spreche man Dinge zu einer Zeit an, wo der andere gerade keinen Kopf hat, und es verselbstständige sich rasch auf die emotionale Ebene.

Nach dem Winter will Victoria Citterio-Sölle über ihre berufliche Zukunft entscheiden.
Foto: Ferdinand Neumüller

Konflikte und Erkenntnisse

Wenn Vater und Tochter zusammenarbeiten, birgt das auch Konfliktpotenzial. Das scheint die beiden aber nicht aus der Ruhe zu bringen. "Jeder von uns hat so seine Trigger. Der Papa nimmt es mit Spaß und nennt mich dann Pfefferkörnchen. Es gibt Situationen, wo ich mir im Nachhinein an den Kopf greife: Wäre ich in einer anderen Firma, wäre ich nicht so explodiert und hätte so viel Emotionen reingesteckt", gibt Victoria Citterio-Sölle zu. Dafür kenne man sich besser, "es klickt schneller, wenn wir über Projekte reden – da sind wir im selben Mindset".

Zudem könne man viel voneinander lernen. Victoria zeigte ihm Social Media und lebte ihm vor, wie man Dinge schnell umsetzen kann, erzählt Christian Sölle. Und ihm gefiel, dass sie auch Nein sagte – aber manchmal sei sie noch zu ungeduldig, räumt er ein. Sie habe von ihrem Vater gelernt, dass es – gerade im Tourismus – wichtig ist, dass man auf sich und seine Kräfte schaue, erzählt Citterio-Sölle mit Rückblick auf die letzten eineinhalb Jahre: "Man kann einige Wochen Vollgas laufen, aber mehrere Monate hält man das nicht durch, wenn es kein ,nine to five‘ gibt wie in anderen Jobs und Samstag und Sonntag normale Arbeitstage sind."

Die Übergabe des Betriebs an die nächste Generation stellt eine der wesentlichsten Herausforderungen für Familienunternehmen dar. Expertinnen und Experten raten, dass man sich möglichst viel Zeit im Voraus nimmt und die Nachfolge früh in den Prozess eingebunden wird, genauso wie beispielsweise die Mitarbeitenden. Neben ökonomischen und rechtlichen Fragen sind auch Emotionen und Befindlichkeiten zwischen den Familienmitgliedern zu berücksichtigen. Das erfordert auch viel Beziehungsarbeit. Viele holen sich für die Staffelübergabe externe Beraterinnen und Coaches zur Hilfe. Victoria und ihr Vater Christian wollen die mögliche Nachfolge jedoch vorerst ohne externe Hilfe planen.

Offene Entscheidung

Sie liegen jedenfalls gut in der Zeit: Christian Sölle ist noch unter 60. Mit 65 Jahren wolle er die Betriebe so fit haben, dass die Kredite auf ein "gutes Niveau abgebaut sind", erzählt er. Ein guter Start für eine Nachfolge. Auch wenn er jetzt noch oft mit seiner Tochter im Betrieb mitlaufe, habe er keine Verlustängste: "Ich weiß, dass ich nicht immer im Betrieb stehen werde. Ich bin da sehr entspannt. Wenn sie noch ein paar Jahre braucht, ist das so. Sobald sie übernehmen will, bin ich weg." Auch weil das Pensionsalter ihres Vaters noch fern war, habe sie lange Zeit keinen Druck verspürt, sich mit dem Familienbetrieb zu beschäftigen, erzählt Citterio-Sölle. Noch wisse sie nicht genau, wo die Reise letztlich hinführt, sagt sie Mitte September.

Nun steht die Wintersaison bevor, die am Berg fast doppelt so lang ist wie die Sommersaison. Hoffentlich könne der Winter möglichst ohne strenge Corona-Einschränkungen ablaufen, wünscht sich Citterio-Sölle. Denn dieser soll endgültig Klarheit für die Nachfolge bringen. Die Skischulen, so viel ist bereits klar, würde sie nicht managen. Die drei Standorte sollen verpachtet werden, die Pläne stünden kurz vor dem Abschluss. Christian Sölle wäre jedenfalls bereit, seiner Tochter nach dem Winter die Schlüssel zu übergeben: "Wir wären fit, dass sie übernimmt." (Selina Thaler, 30.11.2021)