Für viele vielleicht die größte Neuigkeit: Chatroulette existiert noch.

Foto: Emiliano Cicero/Unsplash (Bearbeitung: STANDARD)

Chatroulette dürfte vor allem sehr jungen Internetnutzern höchstens aus Schilderungen bekannt sein. Doch die 2009 vom damals 17-jährigen Andrej Ternowsky ins Leben gerufene Plattform erfreute sich vor allem zu Beginn ihrer Existenz eines gewaltigen Ansturms an Nutzern, denn sie bot etwas so noch nie Dagewesenes.

Sie griff auf die Webcams ihrer Besucher zu und schmiss in regelmäßigen Intervallen zwei zufällige User in eine Konversation. Vielfach verliefen diese Begegnungen harmlos, und so mancher Nutzer gelangte über Mitschnitte zu größerer Bekanntheit, weil er oder sie etwa zahlreiche Chatpartner mit Gesangs- und Showeinlagen beeindrucken konnte. Der Ruhm war freilich kurzlebig.

Webcams und Penisse

Auch der Hype um Chatroulette ebbte relativ flott wieder ab. Der Grund dafür lag aber nicht alleine im Auftauchen von Konkurrenten und Nutzern, die sich an dem Format sattgesehen hatten, sondern auch an einem unerfreulichen Phänomen: Immer öfter wurde Chatroulette für ungefragte sexuelle Darstellungen genutzt. Häufig fanden Nutzer dabei anstelle des Gesichts ihres Gegenübers die Großaufnahme seines Penis bei der Selbstbefriedigung vor.

Zwölf Jahre später ist Chatroulette immer noch online und erlebte während der Pandemie wieder etwas Aufschwung. Laut offiziellen Angaben treffen sich auf der Seite monatlich eine Million Menschen. Und nach wie vor sucht Ternowsky nach Mitteln, um das "Penisproblem" in Schach zu halten, berichtet "Vice". Die Maßnahmen haben die Seite allerdings ihre Niederschwelligkeit gekostet. Die Zeiten, in denen man die URL aufrief und einen Button klickte, um an einen zufälligen Videochatpartner vermittelt zu werden, sind vorbei.

Gesichtserkennung

Heute müssen sich Besucher entweder über ihren Google- oder ihren Facebook-Account einloggen. Und vor dem jeweils nächsten Chat sieht man eine Vorschau zweier Kandidaten, von denen man einen auswählt. Ist man selbst auch die Wahl der anderen Person, startet das Gespräch – nicht aber ohne die vorherige Warnung, dass die Plattform moderiert und man für Verstöße gesperrt wird.

Schon bei der Vorschaufunktion sollen technische Maßnahmen verhindern, dass man ungefragt mit entblößten Intimregionen konfrontiert wird. Dabei setzt Ternowsky auf Gesichtserkennung. Eine Identifikation der Teilnehmer findet dabei nicht statt, jedoch muss der Algorithmus zu der Entscheidung kommen, dass im Aufnahmebereich der Webcam ein menschliches Gesicht zu sehen ist, um den Nutzer für Chats zuzulassen.

Er habe kein Problem mit Sexualität, sagt Ternowsky, jedoch sei das "Penisproblem" schlecht fürs Geschäft. Denn Nutzer, die Chatroulette aufrufen und gleich einmal mit etwas konfrontiert werden, das sie abschrecke, sind in der Regel auf ewig verloren. Er würde die Seite gerne von alleine "wachsen" lassen, müsse hier aber eingreifen, damit sie für möglichst alle Nutzer ein Ort der Freude bleibe.

Notwendiges Übel

Schon 2011 wurden erste Erkennungsalgorithmen eingepflegt, um zu erkennen, wenn Nutzer womöglich zu viel nackte Haut zeigten. Damals habe auch ein Team von 100 Moderatoren manuell Chats gesichtet, um gemeldete Channels zu prüfen und gegebenenfalls Maßnahmen zu setzen. Geschätzt entdeckte man so etwa 60 Prozent aller anstößigen Inhalte. Seit Mitte 2020 kümmert sich die KI-Firma Hive um diese Aufgabe.

Auch die bestehenden Maßnahmen bieten freilich keinen vollständigen Schutz gegen unerfreuliche Erfahrungen für manche Besucher, das weiß auch Ternowsky. Er selbst hält Algorithmen, die nach Nacktheit suchen, auch für eine "Plage", die falsche Sicherheit vermittle, weil die Menschen ohnehin wieder Wege finden würden, sie auszutricksen, und es "eine Million Möglichkeiten" gebe, dem Gegenüber anderweitig den Tag zu verderben. "Ich will nicht irgendeine hübsche Lösung, die sich die Form von Penissen ansieht. Das ist dumm. Es ist nicht zu fassen."

Punktesystem und Lockvögel

Für den Moment scheint sich der Chatroulette-Gründer auch mit dem Status quo abzufinden, behält aber die Situation über "Lockvögel" im Auge. Eine Reihe frei angestellter Frauen loggen sich jeweils für eine Stunde ein und notieren, auf wie viele Personen welchen Geschlechts, schwarze Bildschirme, Werbung oder sexuell explizite Darstellungen sei stoßen. Sie versuchen auch, andere Nutzer zu Handlungen zu provozieren. Allerdings melden oder sperren sie niemanden.

Er wolle so herausfinden, was auf Chatroulette schlimmstenfalls zu finden sei; werde ein gewisses Maß an Peniseinblendungen überschritten, müsse er sich wieder etwas überlegen. In der Zukunft soll es etwa ein System mit Reputationspunkten geben, die man durch gute Bewertungen anderer Nutzer verdient und wiederum ausgeben muss, um weiter teilnehmen zu können.

Auf die Frage, warum er den sexuellen Aspekt seiner Seite nicht einfach begrüßt und davon profitiert habe, so wie eine Reihe von Camseiten, die in diesen Jahren gegründet wurden, sagt er, dass er von einer solchen Zukunft für Chatroulette nie überzeugt gewesen sei. Eine einschlägige Version der Seite wären einfach nur "Penisse, die auf Penisse schauen", sagt er. "Das funktioniert einfach nicht." (red, 12.10.2021)