Politik- und Medienberater Peter Plaikner schreibt in seinem Gastkommentar über den Zustand der ÖVP.

Gestern standen wir am Abgrund, doch "das Buch von hinten zu lesen ist immer einfacher". Heute sind wir einen Schritt weiter: "Ganz ehrlich gesagt: Ich habe diese 104 Seiten nicht gelesen." Günther Platters Ischgl-Mantra hat also ausgedient. Denn es geht noch simpler. Lediglich 15 Stunden vor dem Eingeständnis am vergangenen Freitag in Stift Stams hatte der Tiroler Landeshauptmann nahe Schloss Schönbrunn erklärt, dass die Landeshauptleute der ÖVP "hundertprozentig hinter Sebastian Kurz" stünden – trotz der 104 Seiten staatsanwaltschaftlicher Begründung für die Hausdurchsuchungen beim Kanzler und Konsorten.

Wird die neue Volkspartei wieder ganz die alte? Die Ermittlungen gegen Sebastian Kurz sorgen natürlich auch in den Landesorganisationen für Unruhe.
Foto: Robert Newald

Die provinzielle Episode ist ein Indiz für den rasant wechselnden Aggregatzustand der angeblich neuen Volkspartei. Ihr türkiser Lack blättert ab, die altvertraute schwarze Grundierung dringt immer stärker an die Oberfläche. Steiermarks Hermann Schützenhöfer hatte sich schon parallel zu Platters Solidaritätsvereinnahmung kritischer gezeigt. Am Sonntagabend legte er via Kleine Zeitung nach: "Die gerichtlichen Verfahren, die es abzuwarten gilt, werden mehrere Wahlen überleben." Deshalb hält er die Frage nach einer allfälligen neuerlichen Kurz-Kandidatur für "theoretisch".

Die Tage einer starken Bundes-ÖVP sind vorbei. Die Landeshauptleute stutzen sie wieder zurück auf das, was sie nach der Alleinregierung mit Josef Klaus – außer unter Wolfgang Schüssel und Sebastian Kurz – immer war: eine ohnmächtige Holding starker Regionalparteien. Dass ihr Erlöser vor erst sechs Wochen mit 99,4 Prozent wiedergewählt wurde, ist so bedeutungslos wie die peinliche Sprecherrolle des dienstältesten Landeshauptmanns und aktuellen Vorsitzenden der Landeshauptleutekonferenz.

Öffentliche Zurückhaltung

Platter ließ sich zwar sogar eine neue Flüchtlingswelle als Verbalhilfe für den Balkanroutenschließer einreden, doch er hat andere Sorgen. Am nächsten Faschingssonntag sind Kommunalwahlen in Tirol. Ein Jahr später folgt der Landtag – wie in Niederösterreich, Kärnten und Salzburg. Auch Wilfried Haslauer, der schon als Ersatzkanzler gehandelt wurde, und Johanna Mikl-Leitner stehen dann zur Wahl. Ihre auffallende öffentliche Zurückhaltung ist das Gegenteil des wahren Gewichts der beiden beim Rückzug von Kurz.

Vor allem dieses Trio – Kärnten ist das schwächste schwarze Glied – wird alles daransetzen, keinem Störfeuer von der Bundesebene ausgesetzt zu sein. Der wahlfreie Schützenhöfer formuliert bereits das Wie: "Wir konzentrieren uns jetzt auf den Alexander Schallenberg." Der adelige Diplomat ohne Hausmacht in der Partei könnte dort die stärkstmögliche Stütze erhalten. Zu viel Loyalität zu Kurz würde ihn zur Kanzlermarionette degradieren. Das Gängelband der Landeshauptleute wäre das geringere und altbekannte Übel. Dieses an der Wurzel zu packen gerät allerdings ins Hintertreffen, solange sich kein Spitzenkandidat für die nächste Nationalratswahl herauskristallisiert.

Schallenberg hat die Chance, sich über die Amtsführung dorthin zu entwickeln. Wenn sie ihn so weit kommen lassen – die türkisen Restbestände in Regierung und Klub sowie die schwarzen Machthaber in den Ländern. Das größte Problem der ÖVP jedoch ist ihre inhaltliche Beliebigkeit, die durch die Selbstauslieferung der Partei an Kurz den Tiefpunkt erreicht hat. Meinungsforschung und Message-Control: Zwischen diesen Stützmauern irrlichternd, verliert sie das christlich-soziale Fundament. Wertfreiheit ist das stromlinienförmige Chassis der umfragegesteuerten Machterhaltsmaschine. Kommunikation dient als Treibstoff für das Nichts in neuen Dimensionen. Ohne ihren Wahlsieg-Messias droht der Volkspartei schon nach vier Jahren Kurz ein programmatisches Wachkoma, wie es in Deutschland die Union erst nach 16 Jahren unter Angela Merkel fulminant verlieren ließ.

Pures Machtkalkül

Die ÖVP ist lediglich deshalb weniger gefährdet, weil – siehe Viererkoalition – alle anderen Parteien auch keinen Genierer kennen, wenn sie zwischen Machtgewinn und Werthaltung entscheiden müssen. Weniger Scholz, Baerbock, Habeck, Lindner statt Rendi-Wagner, Kogler, Maurer, Meinl-Reisinger machen den Unterschied, sondern die schamlose Einbeziehung der FPÖ. Dadurch werden sie zur Unzeit verwechselbar mit dem puren Machtkalkül der ÖVP unter Kurz. Statt dem vom türkisen Umfeld gestreuten Narrativ des moralischen Konkurses aller Parteien gelebtes Anderssein entgegenzusetzen, tappen sie in die blaue Falle.

Nein, so sind wir nicht? Alexander Van der Bellens Mahnung nach Ibiza ist allzu schnell vergessen, sobald die Regierungskarotte vorgehalten wird. Die rot-grün-pinke Spekulation mit der blauen Einbeziehung in eine Koalition verschafft der Volkspartei mehr Luft zur eigenen Neudefinition, als sie verdient. Die Prinzipienuntreue der anderen bedient das Vorurteil: "Die sind doch alle gleich." SPÖ, Grüne und Neos haben damit Politik und Demokratie insgesamt einen Bärendienst erwiesen.

Unterdessen sucht die ÖVP nach ihrem Schritt in den Abgrund noch die Reißleine für den Fallschirm. Bundeskanzler Schallenbergs vordringliche Herausforderung ist hingegen das Licht am Ende des Tunnels. Es stammt nicht von der Leselampe von Platter, sondern vom Laserpointer von Kurz. (Peter Plaikner, 12.10.2021)

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