Ein geplantes Treffen zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und seinem ukrainischen Kollegen Wolodymyr Selenskyj rückt in immer weitere Ferne. Am Montag hat der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew in einem Programmartikel für die Tageszeitung "Kommersant" die politische Führung in Kiew hart angegriffen und Gespräche als "zwecklos" bezeichnet.

Medwedews rhetorische Breitseite besteht aus fünf Thesen: Auf der Suche nach ihrer Identität "erdichtet sich die Ukraine ihre eigene Geschichte", ihr Präsident verbiege sich, verleugne seine jüdische und russischsprachige Identität und gebe sich "als größerer Nationalist aus als die Radikalsten unter diesen", um einen Maidan gegen sich zu vermeiden.

Dmitri Medwedew hält Gespräche mit der Ukraine für zwecklos.
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Drastischer Vergleich

Das wäre genauso absurd, wie "wenn Vertreter der jüdischen Intelligenz in Nazi-Deutschland aus ideologischen Gründen darum bitten würden, der SS beizutreten", wählte der Vizesekretär des Nationalen Sicherheitsrats und Chef der Kreml-Partei Einiges Russland einen drastischen Vergleich. Mit einem auf links gedrehten Menschen sei es unmöglich zu verhandeln, so Medwedew.

In seiner zweiten These wiederholt er im Wesentlichen die Aussagen Putins, dass die Ukraine ein Land unter äußerer Verwaltung sei und die politische Spitze daher unselbstständig. Man brauche sich aber nicht mit "Vasallen" zu unterhalten, sondern müsse mit dem "Lehnsherr" sprechen, schlussfolgerte er.

Hinweis auf Pandora-Papers

Drittens, so Medwedew, seien die Politiker in Kiew auch noch charakterschwach und bereit, ihr Land für ihren persönlichen Vorteil zu opfern. Das Geld bewahrten sie dann auch noch bevorzugt in Steueroasen auf, erlaubte er sich einen Verweis auf die Pandora-Papers, in denen die Namen von 38 Ukrainern (aber auch 19 Russen) auftauchen, darunter auch Selenskyj selbst.

Medwedews vierte Anschuldigung: An der Spitze der Ukraine "stehen ignorante und unzuverlässige Personen", die in Abhängigkeit von der politischen Konjunktur oder "ihren transatlantischen Herren zuliebe" ihre Position änderten. So habe Kiew zwar das Minsker Abkommen unterzeichnet, setze es aber nicht um und versuche mit Lügen von einmal getroffenen Entscheidungen zurückzutreten.

Warten auf anderes Regime

Daher werde Russland mit dieser Führung nicht verhandeln, so Medwedews letzte These. Moskau werde vielmehr geduldig abwarten, bis in Kiew ein anderes politisches Regime an der Macht sei, das auf einen Ausgleich mit Russland setze.

Es birgt eine gewisse Ironie, dass die Vorwürfe von Schwäche und Unselbstständigkeit ausgerechnet unter dem Namen des Politikers in Russland veröffentlicht wurden, der für viele politische Beobachter als Prototyp einer Marionette gilt. Andererseits sind die praktischen Folgen dieser Anwürfe durchaus ernst zu nehmen, ungeachtet dessen, dass Medwedews politisches Gewicht spätestens seit seiner Demission als Premier deutlich abgenommen hat.

"Vieles wird beim Namen genannt"

Immerhin hat Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bekräftigt, dass dies auch die offizielle politische Linie ist. "Vieles wird beim Namen genannt", lobte er den Artikel und betonte, dass Moskau schon in der Vergangenheit mehrfach auf die Schwierigkeiten des Dialogs aufmerksam gemacht habe und ein Treffen der beiden Präsidenten so lange unmöglich sei, bis klar sei, worüber überhaupt gesprochen werden solle.

Selenskyj hatte mehrfach versucht, ein Treffen mit Putin zu initiieren. Im Sommer hatte Moskau daraufhin mit einem Gesprächsangebot über die Wiederherstellung der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen, das Ende der gegenseitigen Sanktionen und die Wiederaufnahme der Verkehrsverbindungen zwischen beiden Ländern reagiert. Die für Kiew vorrangigen Fragen über die Krim und den Donbass schloss Moskau dabei allerdings aus.

Erosion der Beziehungen

Dass Moskau Kiew jetzt generell die Verhandlungsfähigkeit abspricht, dürfte gleichbedeutend mit einem Ende aller Gesprächsbemühungen sein. Das betrifft nicht nur ein bilaterales Treffen zwischen Selenskyj und Putin, sondern wohl auch den von der scheidenden deutschen Kanzlerin Angela Merkel noch angeschobenen Normandie-Gipfel.

Ohne weitere diplomatische Schritte wird der Konflikt nicht zu lösen sein. Durch das Auf-Eis-Legen aller Verhandlungen droht eher noch eine weitere Erosion der Beziehungen mit düsteren Perspektiven vor allem für die Bevölkerung im Donbass. Denn eine weitere Eskalation des Konflikts ist dadurch nicht auszuschließen.

Ob der dreitägige Besuch der US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland in Moskau daran etwas ändert, bleibt abzuwarten: Medienberichten zufolge will sie russisch-amerikanische Konsultationen über den Donbass anschieben. 2019 gab es bereits einmal solche Versuche. Diese verliefen ergebnislos. (André Ballin aus Moskau, 11.10.2021)