Wenn schon die Zeiten nicht rosig sind, dann zumindest die Lippen.

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Wenn man sich schon keine teure Handtasche, keinen Schmuck und keinen Urlaub mehr leisten kann, dann zumindest roten Lippenstift: Das besagt der "Lipstick Index". Er wurde nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem darauffolgenden wirtschaftlichen Einbruch von Leonard Lauder, Spross des Estée-Lauder-Konzerns, aufgebracht.

Der große Luxus ist in unerreichbare Ferne gerückt, darum wird mit dem kleinen Luxus vorliebgenommen. Damit erklärte Lauder, warum – zumindest in seinem Unternehmen – die Lippenstiftverkäufe Anfang der 2000er-Jahre plötzlich durch die Decke gingen.

Klingt ja logisch: Wenn schon die Zeiten nicht rosig sind, dann zumindest die Lippen. Ob sein "Lipstick Index" aber tatsächlich ein Indikator für den Zustand der Wirtschaft oder lediglich geniale PR ist, ist umstritten. In Stein gemeißelt ist jedenfalls nicht, dass Parfümerien gestürmt werden, wenn die Wirtschaft stottert. Das zeigte die Finanzkrise 2009. Und ganz besonders die Corona-Pandemie. Im Homeoffice und bei virtuellen Meetings verging vielen die Lust auf extravagantes Make-up.

Gesunkene Umsätze

Noch ein Faktor kam hinzu: Im täglichen Leben tragen wir seit eineinhalb Jahren oft Maske. Die Farbe der Lippen sieht also ohnehin niemand. Und mit etwas Pech verflüssigt sich der Lippenstift unter der Maske und läuft aus. Im wichtigen Meeting wie ein Clown aussehen? Da lieber ohne Lippenstift.

Fernando Fastoso beschäftigt sich an der Hochschule Pforzheim wissenschaftlich mit Luxus. Er ist Deutschlands erster und bislang einziger Professor für High Class and Luxury Brands. Dass die Corona-Pandemie den "Lipstick Index" ausgehebelt hat, überrascht ihn nicht. Immerhin handelte es sich dabei um eine ganz und gar außergewöhnliche, nie da gewesene Krise, die die Menschen in ihre vier Wände verbannte. Die Umsätze für Lippenstifte seien daher in der ersten Hälfte 2020 eingebrochen.

Die gesunkene Nachfrage bestätigen auch Kosmetikunternehmen – zumindest jene, die sich zu ihren Verkaufszahlen äußern möchten: Bei der Rewe Group, zu der Bipa gehört, berichtet man von einem "Corona-bedingt merklichen Einbruch" im März und April 2020 und einem Aufwärtstrend ab Juni, bevor es ab Oktober erneut bergab ging. Seit März erholen sich die Umsätze zwar langsam wieder. Der Weg zurück ist aber weit.

Auch in der Wiener Parfümerie Staudigl sind zu Beginn des ersten Lockdowns die Lippenstifte eher im Regal geblieben. Mutige Ausnahmen bestätigen die Regel: Einige Kundinnen hätten im Homeoffice sogar besonders tief in die Farbpalette von Rouge und Lippenstift gegriffen, um in den vielen virtuellen Meetings weniger blass zu wirken, erzählt Geschäftsführerin Christina Wolff-Staudigl.

Ein anderes Produkt hat sich bei Staudigl aber zum Krisengewinner gemausert: Nagellack, wahlweise in knalligen oder ganz dezenten Nuancen. Wenn man das Schicksal schon nicht in den Händen hat, dann sollen diese wenigstens gepflegt aussehen: Dieser Griff zum Nagellack in wirtschaftlich düsteren Zeiten ist kein ganz neues Phänomen.

Neue Produkte

Auch ein "Nail Polish Index" wurde daher schon diskutiert. Ob er aussagekräftiger ist als der "Lipstick Index"? Das werden künftige Krisen zeigen.

Auf die aktuelle hat die Kosmetikindustrie jedenfalls rasch reagiert. Etwa in Form von unverwüstlichem Lipgloss, dem das Tragen der Maske – im Gegensatz zum gängigen Lipgloss – angeblich nichts anhaben kann. Bei der Kosmetikmarke Jane Iredale entwickelte man mit dem "Beyond Matte Lip Fixation Lip Stain" einen flüssigen Lippenstift, den man vor dem Aufsetzen der Maske kurz antrocknen lassen sollte, um Flecken zu vermeiden.

Dafür hält er danach garantiert, trocknet die Lippen aber gefühlt ein wenig aus, wie der STANDARD-Test zeigte. Auf matte Farben setzt man diesen Herbst auch im Hause Guerlain mit der Rouge G Luxurious Velvet Kollektion. Die Lippenstifte kommen – auch nicht ganz unpraktisch in Zeiten von Masken – mit ausklappbarem Spiegel daher, was sie aber auch ziemlich schwer und massiv macht. In Wahrheit bräuchte man den Spiegel nicht – der Lippenstift hält ohnehin an Ort und Stelle.

Mit dem Rouge Coco Bloom setzt Chanel wiederum auf viel Glanz. Das sieht schon ein bisschen weihnachtlich aus und pflegt außerdem die Lippen spürbar. Die Maske bekommt dafür aber auch ein kleines bisschen Farbe ab, genau wie beim Lip Balm "Glow Play" von Mac und dem Lippenstift von der mit Abstand günstigsten getesteten Marke Essence.

Wohlgemerkt: Im Gesicht verschmiert hat sich auch bei größtmöglicher Belastung – einem mehrstündigen Flug inklusive Fahrt zum und vom Flughafen – nicht ein einziges der getesteten Produkte.

Einige Tricks

Das klappt besonders gut, wenn man einige Tricks berücksichtigt. Bei Staudigl rät man zum Beispiel zu einem Lippenkonturenstift, wahlweise durchsichtig oder in der Farbe des Lippenstifts, mit dem man die Lippen nicht nur umranden, sondern auch ausmalen kann, bevor das Produkt aufgetragen wird. Eine weitere Möglichkeit ist außerdem ein Lippenpinsel, mit dem man noch genauer arbeiten kann.

Manche der getesteten Produkte haben aber ohnehin einen Applikator, mit dem sich die Lippen besonders exakt ausmalen lassen. Der "Rouge Dior Forever Liquid" zum Beispiel, der so bombenfest sitzt, dass er auch 24 Stunden und zahlreiches Corona-konformes Händewaschen später noch am Testerinnen-Handrücken zu sehen und damit ganz klarer Testsieger ist.

Beim Schminken sowieso immer wichtig: Nur nicht hudeln. Bei Dior empfiehlt man daher, ein bis zwei Minuten zu warten, bevor man eine Maske aufsetzt.

Die richtige Farbe

Bleibt nur noch die Wahl der richtigen Farbe – und die ist Geschmackssache. Allerdings ist die Entscheidungsfindung im ohnehin unübersichtlichen Make-up-Dschungel nicht gerade einfacher geworden. Direkt auf die Lippen wird die Farbe in den Geschäften zum Testen derzeit logischerweise nicht aufgetragen.

Um zu sehen, ob die Farbe zum Hautton passt, empfiehlt sich daher, sie auf den Fingerkuppen – und nicht, wie die Testerin, auf dem Handrücken – aufzutragen und zum Gesicht zu halten. Zugegeben: Ein bisschen Fantasie braucht es dafür schon – und notfalls auch ein wenig Mut für Experimente.

Seit den ersten Lockerungen bzw. seit Urlaube und Restaurantbesuche wieder möglich sind, geht es mit dem Lippenstift wieder bergauf. Glaubt man Jean-Paul Agon, dem CEO von L’Oreal, ist das nicht nur für die Kosmetikbranche ein gutes Zeichen. "Putting on lipstick again will be a symbol of returning to life", meinte er Anfang des Jahres. Selbst wenn man über dem Lippenstift noch eine Maske trägt. (Franziska Zoidl, RONDO, 16.10.2021)

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Pflegend "Glow Play Lip Balm" von Mac, ca. 22 Euro

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Nachhaltig "Beyond Matte Lip Fixation Lip Stain" von Jane Iredale, ca. 35 Euro

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Solide "This is me Lipstick" von Essence, 2,25 Euro

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Feierlaune "Rouge Coco Bloom" von Chanel, ca. 43 Euro

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Bombenfest "Rouge Dior Forever Liquid" von Dior, ca. 45 Euro

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Klotzen statt Kleckern "Rouge G Luxurious Velvet Kollektion" von Guerlain, ca. 35 Euro plus 36 Euro für die Hülle