Nein, man muss nicht alles verstehen. Da waren Michael Ritsch und ich einer Meinung. Und so blickten der Bregenzer Bürgermeister und ich Sonntagmorgen vom zweiten Geschoß der Sonnenkönigin hinunter und beschlossen, nicht zu hinterfragen, was uns ins Auge stach: Hier oben, auf der VIP-Ebene des größten Bodensee-Ausflugsschiffes, schipperten hundert, vielleicht 150 Menschen maskenlos und mit einem (zumindest aus Läufersicht etwas, äh, deftigen Frühstücksbuffet) von Bregenz nach Lindau. Wobei das Frühstück schon passte: Hier oben war ich schließlich einer der ganz ganz wenigen Läufer …

Foto: Tom Rottenberg

…während auf den darunter liegenden Ebenen etliche Hundert ihre Nasen hinter FFP2-Masken verbargen. Das mit den Masken, sagte der Bregenzer Bürgermeister, könne er natürlich schon erklären. Verordnungstechnisch: "Das unten ist Transport, also FFP2-pflichtig. Das hier oben ist eine Veranstaltung, also maskenlos." Aber logisch oder nachvollziehbar? "Nein, mit Logik hat das nichts zu tun. Es ist einfach, wie es ist. Seien wir lieber froh, dass es wieder möglich ist, zu laufen. Das ist viel wichtiger."

Ritsch hat recht. Er sagte, was wohl die meisten der am Sonntagmorgen mit dem Schiff, dem Zug oder sonst wie nach Lindau Reisenden dachten: Dafür, dass man endlich wieder Bewerbe, Volksläufe laufen kann, nimmt man derlei gern in Kauf.

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich hätten Barbara und ich es uns auch einfacher machen können. Schließlich wurden dieses Wochenende auch im Wiener Prater und in Graz Halb- und Vollmarathon gelaufen. Auch der Wolfgangseelauf, einer meiner absoluten Lieblingsvolksläufe, fand dieses Wochenende statt.

Und Bregenz, der Bodensee, ist ja wirklich nicht "just around the corner". Aber dafür umso schöner. "Bilderbuchlauf" nennen ihn die Veranstalter nicht ohne Grund. Das weiß ich nicht nur, weil ich beim Sparkassen-3-Länder-Marathon vor etlichen Jahren schon einmal dabei war, sondern auch aus 1.000 anderen Gründen: Wenn das Vorarlberger Funktions- und Sporttextillabel Skinfit da zwei Startplätze für den Halbmarathon spendiert, ist das allemal ein Grund, Zugtickets (selbst) zu kaufen und quer durch Österreich zu fahren – weil schon die Fahrt über den Bodensee etwas Besonderes ist. Auch ohne das VIP-Programm, zu dem uns die Veranstalter dann upgradeten.

(Womit hier auch der Compliance-Hinweis frühzeitig platziert wäre.)

Foto: Tom Rottenberg

Ganz nüchtern betrachtet, ist Laufen auch am Bodensee "nur" Laufen. Das Setup hier ist mit anderen Laufevents natürlich vergleichbar: ein Viertel-, ein Halb- und ein ganzer Marathon. Staffellauf und Nordic Walking. Klar gibt es das auch anderswo. Auch Kinder- und Jugendläufe am Vortag gehören heute zum Glück fast überall zum guten Ton.

Sie sind für mich emotional auch längst wichtiger als Streckenrekorde oder TeilnehmerInnenzahlen: Weil dieses gemeinsame Rennen mithilft, Kindern die Urfreude an Bewegung zu erhalten. Wenn dadurch nur eine Handvoll Kids weniger oder später zu Smombies und Couchpotatoes werden, ist schon viel gewonnen.

Foto: Tom Rottenberg

Denn auch wenn man die Kids dann irgendwo "verliert", ist es leichter, Menschen, die in ihrer Jugend einmal Spaß am Sport hatten, später wieder zurückzuholen.

Ich spreche aus Erfahrung. In meiner Schulzeit, in meiner Schule wäre es undenkbar gewesen, dass Lehrer mit uns an Sportveranstaltungen teilgenommen hätten: Der Turnlehrer saß im Kammerl, las Zeitung – und ließ uns Völkerball spielen. Oder auch nix tun. Ich habe in meiner gesamten Schullaufbahn weder einen Felgaufschwung probiert noch bin ich je weit- oder hochgesprungen.

Sport kam spät, richtig spät, und reichlich holprig in meinen Alltag.

Umso schöner ist es, das Gegenteil zu beobachten und mitzubekommen, dass das auch einen Bürgermeister begeistert: Ritsch hängte den Kids unermüdlich Medaillen um. Obwohl ihm mehrfach eine Ablöse angeboten wurde.

Foto: Tom Rottenberg

Aber Laufen ist eben nie nur Laufen. Der Ort, die Region, das Setting spielen auch eine Rolle. Wenn sich das nicht nur beim Bewerb selbst, sondern auch im Vor- und Umfeld erleben lässt: umso besser. Und noch besser, wenn man es sogar läuferisch inszeniert.

Beim Dreiländerlauf gehört ein geführter Stadtlauf durch Bregenz mittlerweile angeblich schon zur Tradition. Martina Feurstein, die Kommunikationschefin des Kunsthauses Bregenz, führte da eine kleine Gruppe eine Stunde lang in lockerem Trab zu einigen der wichtigsten oder schönsten Ecken der Vorarlberger Landeshauptstadt. Zu schönen Ausblicken, historischen Orten und Kunst im öffentlichen Raum ebenso …

Foto: Tom Rottenberg

… wie durch "ihr" Haus, das Kunsthaus Bregenz. Laufend durch den innen wie außen pittoresken KUB-Kubus mitten in der Altstadt (am vorletzten Tag der Schau der Installationen von Anri Sala) hat man natürlich nicht die Muße, Arbeiten in Ruhe anzusehen: Dass da in einer Videoinstallation etwa zwei Schnecken im – sic! – Schneckentempo einen (natürlich über Saiten streichenden) Geigenbogen hinaufkriechen, bekamen wir höchstens aus dem Augenwinkel mit.

Aber: Das Konzept von "Siterunning" ist ja weniger der komplette, tiefe Blick in und auf Details als das Sammeln von Eindrücken. Das Lustmachen auf mehr: auf einen zweiten Besuch mit genügend Zeit zum Verweilen.

Das lässt sich auch ins Große übersetzen: Laufen, das, was man dabei sieht, ist ein touristisches "Lockmittel".

Foto: Tom Rottenberg

Beim Dreiländerlauf beginnt das schön und spektakulär: auf dem Hauptplatz und in der Altstadt von Lindau. Dass die mittelalterliche Inselstadt, ihr Hafen und die Blicke in und durch kleine Gassen malerisch, schön und mitunter auch kitschig bis romantisch sind, ist keine große Überraschung.

Aber mit Teil des Reizes ist es, Bilderbuchorte auto- und abgasfrei und nicht nur aus dem eingeschränkten "Vom Gehsteig aus"-Blickwinkel zu erleben.

Und mit einem Rudel von Menschen, die man zwar nicht kennt, mit denen einen aber eines verbindet: die Freude daran, die Welt aus dieser Perspektive kennenzulernen.

Weil so zu laufen mehr ist, als bloß zu rennen.

Foto: Tom Rottenberg

Der Dreiländerlauf wäre dafür normalerweise ein gutes Beispiel. Obwohl das heuer Corona-bedingt nicht ganz so war. In den letzten Jahren mauserte er sich aber zu einem Hotspot für LäuferInnen aus Island: Unter den insgesamt etwa 6.000 AthletInnen waren da immer hunderte Isländer und Isländerinnen. Erkennbar an Dressen, aufgeschminkten Flaggen und dem mittlerweile berühmten isländischen "Hu!"-Ruf. Was sie an den Bodensee bringt? Eine günstige Direktverbindung von Reykjavík nach Friedrichshafen, zu dem Airport gleich ums Eck.

Heuer fehlten die Isländer. Wir trafen dafür Irinnen, Norweger, Mexikanerinnen und Brasilianer – und natürlich viele, viele Läuferinnen und Läufer aus Deutschland, der Schweiz und Österreich.

Foto: Tom Rottenberg

Wobei "Österreich" da durchaus enger gefasst werden darf: Dass bei der Pressekonferenz (am Freitag) zwar von "Deutschland, der Schweiz und Österreich" geschrieben, aber stets von "Deutschland, Schweiz und Vorarlberg" gesprochen wurde, fiel den autochthon-regionalen Akteuren und JournalistInnen nicht auf. Es geschah keineswegs mit Absicht oder war unfreundlich gemeint: Ganz im Gegenteil, ich habe selten ein freundlicheres, entgegenkommenderes Bewerbsumfeld erlebt. Das Wording drückte einfach das regionale Selbstverständnis aus – und fällt nur dadurch "Ausgeschlossenen" auf. In dem Fall eben dem Wiener.

Foto: Tom Rottenberg

Dass ich oben von "Akteuren" sprach, ist dabei kein Zufall. Aber die Parallele zum regionalen Code fiel mir zunächst gar nicht auf. Barbara schon: "Fast die Hälfte der Läufer sind Läuferinnen – aber es treten nur Männer auf." Bei der Pressekonferenz (zwei Bürgermeister, Renn-Offizielle, Sponsorvertreter) ließe sich das noch mit Ämtern und Strukturen erklären. Dass die (großteils Doppel-)Moderation des Events rein männlich war, nicht. Zumindest dort, wo wir es mitbekamen, Samstag wie Sonntag, sprachen ausschließlich Männer.

Klar sind das Marginalien. Nano-Details. Es ändert an der Freude, den Impressionen unterwegs, nichts. "Trotzdem ist dir aufgefallen, dass fast ganz Österreich, acht Bundesländer, nicht erwähnt wurden und du somit weggelassen wurdest. Ohne böse Absicht. Denk mal drüber nach."

Foto: Tom Rottenberg

Beim Laufen selbst ist das natürlich vollkommen egal. Da rennt man nämlich von Lindau in Richtung Vorarlberg (also: Österreich) und dann die sogenannte Pipeline entlang. So heißt der in einem langen Bogen bis nach Bregenz führende Uferweg den Bodensee entlang, weil darunter tatsächlich eine Pipeline verläuft, durch die von den späten 1960er Jahren bis 1997 Öl von Genua nach Ingolstadt gepumpt wurde.

Heute ist die Pipeline ein Badestrand. Einer der beliebtesten Abend- und Ausblick-Hangouts der Region.

Wieso, sieht man beim Laufen sofort: Die Blicke auf den See sind einmalig. Das Lauferlebnis in der Gruppe auch – obwohl es mitunter ein wenig eng ist.

Am Tag nach dem Lauf begannen daher Umbauarbeiten: Die Pipeline soll breiter werden.

Foto: Tom Rottenberg

Nach der Pipeline kommt das nächste Highlight: die Seebühne. Man läuft drüber. Genauer: durch den Zuschauerbereich. In "normalen" Dreiländerlaufzeiten sieht man hier das aktuelle Opernbühnenbild der Bregenzer Festspiele.

Heuer nicht: Die Bühne ist Baustelle. Aber am Gefühl, hier etwas Besonderes zu erleben, hier einen nichtalltäglichen Ort zu belaufen, ändert das nichts.

Dass die Seebühne des Bregenzer Festspielhauses gerade einmal zehn Kilometer vom Start in Lindau entfernt ist, hat da einen gewaltigen Vorteil: Auch "Normalos" sind hier noch so fit, dass ihnen Besonderheiten auffallen.

Foto: Tom Rottenberg

Denn die "Arbeit" beginnt danach: In der zweiten Hälfte des Halbmarathons geht es durch Auwälder, über den Rhein, durch kleinere Siedlungen und für "Marathonis" dann in die Schweiz und zurück.

Wunderschön, gut zu laufen und für Jedermann- und Jederfrau-LäuferInnen durchaus eindrucksvoll. Ein "Bilderbuchlauf" – nicht nur in dieser Hinsicht. Schließlich sieht man ab hier immer wieder diejenigen, die wirklich schnell und auch schön unterwegs sind beim "Heimflug". Als wir nach etwas mehr als einer Stunde in der Au waren, kamen uns die Führenden auf ihrem letzten Kilometer entgegen und demonstrierten den Unterschied zwischen laufen und laufen.

Foto: Tom Rottenberg

Wobei das keineswegs heißt, dass "Hobettenlaufen" weniger wert ist. Ganz im Gegenteil. Dass es da genauso ums Lachen, ums Strahlen und ums gemeinsame Genießen geht, lässt sich bei Läufen wie dem Dreiländermarathon vermutlich noch schöner und eindrucksvoller erleben als bei vielen reinen Stadtbewerben oder Rundkursen: Das Wechselspiel zwischen Stadt und Land, Fluss und See und Wald und Wiese lenkt gut von der Anstrengung ab, die Luft vom See ist frischer, als man es sonst meist kennt – und die frühherbstlichen Temperaturen sind zum Laufen perfekt.

Foto: Tom Rottenberg

Klar wird ein Halbmarathon dann irgendwann trotzdem vom Spaziergang zu echter läuferischer Arbeit. Ein bisserl Fluchen, ein bisserl Hadern, ein bisserl Zweifeln, ob sich das mit der eigenen Kraft auf den letzten paar Kilometern wohl ausgehen wird, gehört dazu.

Umso schöner, wenn man dann doch über die Ziellinie fliegt.

Noch schöner, wenn man es gemeinsam tut.

Foto: Tom Rottenberg

Die Zeit? Irrelevant – und dennoch ein Hammer:

Der Dreiländermarathon war Barbaras zweiter Halbmarathon. Vor drei Wochen war sie beim VCM ihren ersten gelaufen. Hier in Bregenz war sie deutlich nervöser: Sie wusste jetzt ja, was auf sie zukam. Gleichzeitig fehlen ihr, so wie allen Newbies, jene Kilometer in den Beinen, mit denen sich abschätzen lässt, was heute in etwa möglich oder unmöglich sein könnte.

Wie es lief? Mehr als perfekt. Wir kamen 20 Minuten früher als beim VCM ins Ziel.

Und waren somit 15 Minuten vor Isaac Kosgei da.

Dass der die doppelte Strecke von uns gelaufen war, muss man ja nicht unbedingt betonen: Was zählt, ist das Lachen. Die Freude an dem, was man da tut.


Mehr Bilder finden Sie auf Tom Rottenbergs Facebook- & Insta-Seiten.

Hinweis im Sinne der redaktionellen Richtlinien: Die Teilnahme am Lauf erfolgte auf Einladung von Skinfit, ein Teil der Reisekosten wurde vom Dreiländermarathon übernommen.


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Foto: Tom Rottenberg