So heftig das Gezerre um den sechsjährigen Eitan ist, der Junge selbst bleibt ungehört. Der einzige Überlebende des Seilbahnunglücks am Lago Maggiore im Mai wird vor den Medien geschützt. Immerhin hier sind sich die Angehörigen einig – das ist aber auch schon alles.

Eitan Biran hat bei dem Seilbahnunglück seine Eltern, seinen einzigen Bruder und seine Urgroßeltern verloren. Seither streiten seine Angehörigen über die Frage, wo Eitan aufwachsen soll.

Der Bub wurde bei dem Unglück schwer verletzt, er verbrachte mehrere Wochen in einem Spital in Turin. Nach seiner Entlassung im Juni sprach ein italienisches Gericht seiner Tante väterlicherseits, Aya Biran-Nirko, das Sorgerecht zu. Die israelischstämmige Ärztin lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Pavia, der Stadt, in der auch Eitan aufgewachsen ist. Seine Eltern waren vor mehreren Jahren aus Israel nach Italien übersiedelt. Anfang September hätte Eitan dort mit der Schule beginnen sollen.

Die Tante des Sechsjährigen hat in Italien das Sorgerecht zugesprochen bekommen.
Foto: AFP /Guez

Entführungsvorwurf

Vor knapp einem Monat brachte sein Großvater mütterlicherseits das Kind nach Israel – auf dem Landweg in die Schweiz, von dort laut Medienberichten mit dem Privatjet. Seither lastet der Vorwurf des Kidnappings auf ihm. Ein Gericht in Tel Aviv prüft das unter Ausschluss der Öffentlichkeit, am Sonntag fand die letzte Anhörung statt. Sie dauerte zwölf Stunden. Das Gericht gab danach bekannt, binnen zwei Wochen entscheiden zu wollen.

Die in Italien lebenden Angehörigen sind überzeugt, dass Eitan entführt wurde. Der israelische Familienzweig meint indes, der Großvater habe Eitan lediglich "nach Hause" gebracht. Eitans Eltern hätten mittelfristig nach Israel zurückkehren wollen, sagen sie – sie würden also nur ausführen, was ohnehin geplant gewesen war.

Boulevardmedien diesseits und jenseits des Mittelmeers verhandeln den Fall als nationale Causa. Die in Israel lebende Großmutter bedauerte öffentlich ihren schweren Verlust, sie habe fünf Familienmitglieder verloren, beim Schabbat-Essen sei der Tisch halbleer. Italienische Medien verhandeln den Fall als Musterbeispiel der Skrupellosigkeit in Sorgerechtskonflikten: Um seinen Enkel bei sich haben zu können, entreiße der Großvater das schwer traumatisierte Kind seiner gewohnten Umgebung – und entziehe ihn dem stabilen Umfeld, das er zu seiner Heilung jetzt so dringend braucht.

"Kindeswohl"

Beide Seiten sind überzeugt, dass nur sie im Sinne des Kindeswohls handeln.

Das "Kindeswohl" sei aber "ein sehr schwammiger Begriff", der den Angehörigen oft als Fassade für die eigenen Ansprüche diene, sagt die Rechtsprofessorin Schulamit Almog von der Universität Haifa. Vor nicht allzu langer Zeit hätten noch manche Eltern Ohrfeigen als kindeswohlsverträgliche Erziehungsmittel betrachtet. Besser sei es, darüber hinaus auch über "Kinderrechte" nachzudenken und sich zu fragen, ob eine Erziehungsmaßnahme der Würde des Kindes zuträglich ist. Denn letztlich liege es an den Erziehungsberechtigten, die Würde des Kindes zu schützen, sagt Almog, die für Israel den nationalen Bericht zur UN-Kinderrechtskonvention mitverfasst hat.

Internationales Recht sei im Fall Eitan jedenfalls klar, sagt Almog: Da das italienische Gericht die Tante mütterlicherseits als Obsorge-Person definiert hat, müsse Eitan nach Italien zurückkehren. Die in Israel lebenden Verwandten geben aber vorerst nicht auf: Sie haben Eitan hier bereits an einer Schule angemeldet. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 12.10.2021)