Weil niemand zur Verfügung stand, um sie zu unterstützen, musste eine Frau tagelang im Bett liegen bleiben – laut Gerichtsentscheid widerrechtlich.

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Wien – Die Berichte über zunehmende Fälle von Freiheitsberaubung in Pflege- und Altenheimen kommen vom Vertretungsnetz, das für Menschen mit psychischer oder intellektueller Beeinträchtigung eintritt. Und sie kommen von der Volksanwaltschaft, deren Kommissionen für die präventive Menschenrechtskontrolle diesen Einrichtungen Besuche abstatten – auch unangemeldet.

"Eine Dame, die auf den Rollstuhl angewiesen ist, bekam zwei Betttage pro Woche verordnet. Es fehlte das Personal, um ihr jeden Tag in den und mit dem Rollstuhl zu helfen. In einem weiteren Heim wurden am Nachmittag sedierende Medikamente verteilt, damit die Bewohnerinnen und Bewohner von 19 bis sieben Uhr früh durchschliefen. "

Unter die Dusche gedrängt

"Wieder woanders wurde ein Bewohner, der sich gegen die Körperpflege wehrte, unter die Dusche gedrängt, anstatt dass man versucht hätte, ihn zu überzeugen. An beiden Orten gab es zu wenig Pflegekräfte", schildert Susanne Jaquemar, Fachbereichsleiterin beim Vertretungsnetz, mehrere krasse Fälle.

Auch Florian Kräftner, Sprecher von Volksanwalt Bernhard Achitz, berichtet, dass Mitglieder der Besuchskommissionen in den Heimen heuer immer häufiger auf zugesperrte Zimmertüren und geschlossene Bett-Seitenteile stoßen würden. In den nächsten Jahresbericht an National- und Bundesrat würden diese Beobachtungen aufgenommen.

"Eklatanter Pflegenotstand"

Nicht ursächliche Empathielosigkeit stehe hinter derlei menschenrechtswidriger Behandlung von alten und hilfsbedürftigen Menschen, sagt Jaquemar. Vielmehr liege es "an einem eklatanten Pflegenotstand, der sich durch die Corona-Pandemie weiter vertieft hat".

Die vergangenen eineinhalb Jahre hätten das Personal extrem gefordert, sei es wegen Covid-19-Erkrankungen in der Einrichtung, sei es durch zusätzliche Verwaltungsaufgaben wie das Corona-Testmanagement. Viele seien erschöpft, machten aber mangels Ersatzkräften dennoch mit 40-Stunden-Wochen und mehr weiter.

Long-Covid-Symptome in der Pflege

Etliche würden über einen Jobwechsel nachdenken. "Das, was sie als vollwertige Pflege erlernt haben, können sie nicht praktizieren. Stattdessen müssen sie unter viel Stress die Grundversorgung der ihnen Anvertrauten aufrechterhalten", sagt Jaquemar. Sie spricht von "Long-Covid-Symptomen in der Pflege".

Diese betreffen auch die Bewohnerinnen und Bewohner von Alten-und Pflegeheimen selbst. Ihnen hängen laut Vertretungsnetz immer noch die Maßnahmen nach, die man während der ersten Corona-Wellen gesetzt hatte, um ihr Leben zu schützen. In einer Reihe von Alten- und Pflegeheimen seien bundesweit die Besuchsregelungen nach wie vor eng.

"Bei nur einer Stunde Besuchsrecht für eine Person pro Tag sehen viele ihre werktätigen Verwandten höchstens einmal pro Woche", sagt Jaquemar. Das reduziere die für alte und gebrechliche Menschen wichtigen Mobilisierungsimpulse.

"Systemkollaps"-Gefahr

Was aber tun, um die Lage zu verbessern? Hier sind sich Vertretungsnetz und Volksanwaltschaft einig. Es brauche eine strukturelle Pflegereform, von der zwar seit Jahren gesprochen wird, die aber noch immer nicht auf den Weg gebracht ist – und dazu wiederum brauche es vom Finanzministerium Geld, um die Arbeitsbedingungen durch mehr Planposten zu verbessern und die Löhne für Pflegende zu erhöhen.

Andernfalls werde sich aus der Gesundheitskrise aufgrund von Corona ein "Systemkollaps" entwickeln, heißt es bereits im Bericht der Volksanwaltschaft zur Präventiven Menschenrechtskontrolle für das Jahr 2020.

Zumindest an der Struktur wird gearbeitet. "Aufbauend auf den Ergebnissen der Taskforce Pflege haben die Länder bereits begonnen, ihre Vorstellungen gemeinsam zu konkretisieren", steht in einer Stellungnahme des Sozialministeriums. Der Bund könne hier aber nur Vorarbeiten leisten: Umgesetzt werden müssen die Reformschritte in den dafür zuständigen Bundesländern. (Irene Brickner, 13.10.2021)