Für den ehemaligen EU-Kommissar Franz Fischler, der anfangs durchaus große Hoffnungen in Sebastian Kurz als ÖVP-Chef gesetzt hat, ist angesichts der laufenden Korruptionsstrafverfahren klar: "Er dürfte jedenfalls nicht für eine weitere Wahl aufgestellt werden, wenn ein Verfahren gegen ihn läuft."

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Franz Fischler ist für viele so etwas wie ein politischer Kompass, nicht nur in der ÖVP. Der ehemalige EU-Kommissar hat von seiner Partei schon 2006 eine Totalreform gefordert. Jetzt sieht sich der weithin respektierte "Altvordere" der ÖVP, der schwarzen, der "alten" Volkspartei nicht nur damit konfrontiert, dass die jungen Türkisen eine schwere Regierungskrise verursacht und die Partei in ein Korruptionsverfahren manövriert haben, dessen Folgen nicht absehbar sind. Er war auch Ziel einer in den Chats dokumentierten Ranküne hinter den Kulissen.

STANDARD: Welche Haltungsnote im buchstäblichen Sinne geben Sie Ihrer Partei für die vergangenen Tage?

Fischler: Da sind zwei Aspekte wichtig: Das eine war, eine rasche Lösung herbeizuführen. Das hat sie erreicht, weil Herr Kurz selber dafür den Weg freigemacht hat. Aber eine langfristige Lösung, vor allem die Aufarbeitung aller im Raum stehenden Probleme, die die ÖVP auch als Partei betreffen, immerhin wird sie ja mittlerweile auch als Beschuldigte geführt, steht aus. Das war in der kurzen Zeit auch nicht möglich, ist aber jetzt zu leisten.

STANDARD: Was muss in der Partei geschehen? Immerhin ist Kurz weiter ÖVP-Chef und jetzt auch noch Klubchef im Parlament. Kann er die notwendigen Schritte überhaupt leisten?

Fischler: Ich glaube nicht, dass man alle diese Schritte von ihm erwarten kann, es gibt dafür vorgesehene Parteigremien. Diese Organe müssen jetzt tätig werden, natürlich inklusive der Bünde und Landesparteiorganisationen. Diese Aufgabe betrifft alle. Wobei Sebastian Kurz vor allem in jenen Fällen, wo eine gewisse Befangenheit vorliegen könnte, sowieso nicht mitwirken soll.

STANDARD: Trauen Sie den Landesparteiobleuten diesen internen Reinigungsprozess zu? Die waren die Ersten, die sich reflexhaft "geschlossen" hinter Kurz gestellt haben. Die sollen jetzt gegen ihn in der Partei aufräumen?

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Fischler: Wie Sie sagen, das war ein Reflex oder, das nehme ich an, auch eingefordert vom Parteiobmann. Die Frage, ob man ihnen das zutraut, stellt sich nicht, denn es gibt keine Alternative. Wenn ich jetzt sage, ich traue es ihnen nicht zu, was heißt das dann? Dann muss man die ÖVP einstellen. (lacht) Das muss von den zuständigen Organen transparent aufgearbeitet werden, sodass am Ende auch Außenstehende beurteilen können, ob eine zufriedenstellende Aufarbeitung erfolgt ist oder nicht.

STANDARD: Kann das aber ernsthaft mit Sebastian Kurz mittendrin, der sich im ÖVP-Parteistatut ja eine unglaubliche Macht ausbedungen hat, gelingen?

Fischler: Da sind verschiedene Dinge im Spiel. Da ist das rechtliche Problem, das Thema Unschuldsvermutung und alles, was dazugehört, das ist ja jetzt nicht aus der Welt geschafft. Da ist die erste Frage: Wie zügig wird es zu einem Verfahren kommen? Mittlerweile sollte allen klar sein, und man sollte die Staatsanwaltschaften auch nicht für so unfähig einschätzen: Es wird zu einer Anklage kommen, sonst würde sich die ganze Staatsanwaltschaft ja lächerlich machen, wenn es in der Situation immer noch keine Anklage geben würde. Das ist einmal so weit klar. Dann ist die Frage: Wie lange dauert der Prozess? Da ist damit zu rechnen, vor allem wenn man alle Rechtsmittel ausschöpft, dass das eher länger dauert, sodass von daher keine rasche Lösung kommt. Denn da stellt sich dann längst die Frage einer nächsten Wahl, und ich glaube nicht – ich will das auch gar nicht denken wollen –, dass die ÖVP mit einem Spitzenkandidaten in die Wahl geht, gegen den zu diesem Zeitpunkt ein Strafprozess läuft.

STANDARD: Müsste Kurz zurücktreten, wenn es eine Anklage gibt?

Fischler: Das ist noch einmal etwas anderes. Er dürfte jedenfalls nicht für eine weitere Wahl aufgestellt werden, wenn ein Verfahren gegen ihn läuft. Zudem gibt es noch die politische Dimension. Nachdem noch lange nicht alle Chats und sonstigen Konversationen ausgewertet sind, wird im kommenden U-Ausschuss noch alles Mögliche bekannt werden. Kurz wird laufend ein öffentliches Thema sein. Und dann, glaube ich, setzt ein Prozess ein, der am Ende dazu führt, dass es um Sebastian Kurz sehr ruhig werden wird, ruhig im Sinne von: dass er noch eine Chance hat, Kandidat zu werden. Darum müssen sich die Parteigremien meiner Meinung nach schon jetzt überlegen, mit wem sie in die nächste Wahl gehen.

STANDARD: Sie gehen also nicht von einer glorreichen Rückkehr Kurz’ aus?

Fischler: Die gibt’s nur dann, wenn zu dem Zeitpunkt feststehen würde, dass er völlig reingewaschen ist, das heißt, freigesprochen, und dass das Verfahren abgeschlossen ist. Aber das ist nicht sehr wahrscheinlich.

Beim Parteitag in St. Pölten am 28. August wurde Sebastian Kurz noch mit 99,4 Prozent der Delegiertenstimmen als ÖVP-Obmann bestätigt.
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STANDARD: Was haben Sie eigentlich gedacht, als Sie Ihren Namen in Thomas Schmids Chat-Fundus gelesen haben? Er wollte Sie 2018 als Präsident des IHS-Kuratoriums absägen und schrieb damals an den Vizekabinettschef von Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP): "Wie kann Fischler früher abgelöst werden?" Und weiter: "Und wir brauchen ein verlässliches Kuratorium." Haben Sie diese Intrige damals schon mitgekriegt? Sie war übrigens erfolglos.

Fischler: Für mich war das nur eine Bestätigung dessen, was ich vermutet habe. Wobei in meinem Fall nicht unmittelbar von Kurz die Rede war. Das war eine Konversation zwischen zwei Kabinettsleuten im Finanzministerium.

STANDARD: Sie haben vorhin gesagt, es gibt zwei Dimensionen in der ganzen Causa: die strafrechtliche und die politische. Gibt es nicht auch noch ...

Fischler: ... die ethische Dimension? Die gibt es, aber ich glaube, sie ist verdunstet. Da haben wir, nicht nur der Herr Kurz und seine Umgebung, sondern ganz Österreich, einiges aufzuarbeiten, weil ich finde es auch nicht gerade ethisch hochstehend, wenn die Opposition bereit ist, eine Regierung mithilfe des Herrn Kickl zu bilden oder ihn sogar hineinzunehmen. Wo ist da die Ethik? Doch ist diese Frage vielleicht der wichtigste Punkt, der im Ausland gesehen wird. Ich habe das schon nach der Ibiza-Affäre gesagt, dass Österreich als Land gesehen wird, wo es eine relativ große Bereitschaft vor allem zur Korruption im Kleinen gibt. Der Schriftsteller Franzobel schrieb unlängst in der NZZ vom "Homo corruptus". Da haben wir sehr viel zu tun. Wir brauchen wieder Leute wie Erwin Ringel, die uns einen Spiegel vorhalten, damit wir uns selber besser sehen können.

STANDARD: Apropos ethische Dimension: Hätte Sebastian Kurz mit einem Rücktritt sich und dem Land und der politischen Kultur einen besseren Dienst erwiesen?

Fischler: Das ist wirklich ambivalent. Mit einem Rücktritt hätte er der Politik einiges erspart, aber wahrscheinlich hätte dann diese Debatte über den politkulturellen Zustand Österreichs gar nicht begonnen. Er hat also ungewollt eine Österreich-Debatte ausgelöst.

STANDARD: Sind Sie persönlich enttäuscht von Sebastian Kurz?

Fischler: Ich hielte es für geradezu schädlich für die ÖVP, wenn man jetzt sagen würde, wir müssen zurück zu den alten Zuständen. Das wäre genau falsch. Worüber ich tatsächlich schwer enttäuscht bin, ist, obwohl schon unter Jörg Haider über Politikerprivilegien und dieses unmögliche System namens Proporz geredet wurde: Was hat die Regierung Kurz/Strache gemacht? So viel Proporz und Packelei auch in Personalfragen gab’s nie zuvor. Und über diese Respektlosigkeit, diese Oberflächlichkeit und Primitivität im persönlichen Umgang, was man da alles in den Chats liest, bin ich nicht nur enttäuscht, sondern entsetzt. Das hätte ich Kurz nicht zugetraut. (Lisa Nimmervoll, 14.10.2021)