Perfektionismus wird oft in Verbindung mit beruflichem Erfolg gebracht. Dabei hat das Charaktermerkmal auch viele Schattenseiten.

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"Ich bin einfach zu perfektionistisch" – dieser Satz wird gerne als vermeintlich positive Schwäche in Bewerbungsgesprächen genannt. Schließlich stellen Personen mit diesem Charaktermerkmal hohe Anforderungen an sich selbst und sind sehr engagiert, was sich positiv auf ihre Leistungen im Beruf auswirkt. So lautet zumindest das gängige Vorurteil. Dabei hat der Drang, immer 110 Prozent zu geben, viele Schattenseiten – nicht nur für Betroffene.

"In meiner Praxis kommt das Thema sehr oft vor. Viele berichten davon, dass es ihnen schwerfällt, sich von der Arbeit abzugrenzen, pünktlich nach Hause zu gehen und keine Überstunden zu machen", sagt die Arbeitspsychologin Claudia Altmann. Meist seien es Frauen, die mit diesen Schwierigkeiten zu ihr kommen und die Perfektionismusfalle auch als solche benennen. "Männer sagen eher, sie könnten sich nicht von der Arbeit lösen oder wollten ihre Aufgaben immer so gut wie möglich machen", sagt sie. Dass Perfektionismus über das Klischee des motivierten und genauen Mitarbeitenden hinausgehe, zeige sich vor allem an einer Überlastung der Betroffenen. Auch in Burnoutverläufen komme es häufig vor, dass Menschen perfektionistische Züge aufweisen.

Wer ist betroffen?

Wie zeigt sich der Perfektionismus? "Kurz gesagt: Wenn man das Gefühl, etwas gut gemacht zu haben, für sich selbst nie hat", erklärt Altmann. Meist seien Betroffene unsicher und hätten wenig Selbstvertrauen. Aber auch Personen, die sich profilieren wollen, würden zu Perfektionismus neigen. Also Menschen, die mit ihrer Leistung hervorstechen wollen, um besser als andere zu sein. Eine Personen- oder Berufsgruppe, die besonders häufig betroffen ist, gebe es aber nicht.

Ursachen für dieses Denken sind laut der Arbeitspsychologin zum Teil in der Kindheit zu finden: Wie wurde Leistung von den Eltern oder in der Schule beurteilt? "Manche Eltern sind der Meinung, dass nur eine Eins gut ist, und haben sehr hohe Erwartungen an ihre Kinder." Aber auch der Vergleich mit anderen könne dazu beitragen, die eigene Leistung ständig neu zu beurteilen.

Hoher Leistungsdruck

Treiber für Perfektionismus in unserer Gesellschaft seien laut der Arbeitspsychologin vor allem Leistungsdruck und Selbstoptimierung. Auch das vermeintlich positive Mindset von Coaches und Lebensberatern mit Glaubenssätzen wie "Wir müssen uns nur genug anstrengen, dann können wir auch alles erreichen" sei ein Problem. "Dass wir selbst für unser Glück verantwortlich sind, stimmt nämlich nur zum Teil", sagt Altmann. Viel mehr würde es Menschen Druck machen und das Gefühl geben, sie wären selbst schuld, wenn sie überanstrengt, gestresst oder überfordert sind. Gerade unter Jüngeren zwischen 20 und 30 Jahren sei das immer öfter Thema.

Ein weiteres Problem: Perfektionismus ist nach wie vor eine positiv bewertete Eigenschaft. Die Schattenseiten wie Belastung und Leidensdruck, den Menschen verspüren, die davon betroffen sind, werden meist ausgeblendet. "Diese permanente Verunsicherung schränkt Betroffene stark ein. Ein klassisches Beispiel ist auch, dass Menschen ihre Aufgaben langsamer erledigen, weil sie nie mit dem Ergebnis zufrieden sind, und Projekte ständig überarbeiten, statt sie abzuschließen." Außerdem beschränkt sich der Perfektionismus nicht nur auf die Arbeitswelt, sondern macht sich auch im Privatleben bemerkbar: "Betroffene sind mit ihrer Energie oft schnell am Limit, fühlen sich ausgelaugt und können auch in der Freizeit nicht richtig vom Job abschalten", sagt Altmann. Das würde auch private Beziehungen und das Umfeld belasten.

Was hilft?

Und wie entkommt man nun dem Perfektionismus? Der erste Schritt sei wie so oft, sich einzugestehen, dass ein Problem vorliege. Dabei kann es laut der Arbeitspsychologin helfen, sich selbst folgende Fragen zu stellen: Reicht es für mich, wenn etwas so gut wie möglich gemacht wird, oder muss alles perfekt sein? Und wann ist etwas für mich gut genug?

"In der Therapie rate ich Betroffenen dann, sich ihre Arbeit wie einen Cupcake vorzustellen", sagt Altmann. "Unten ist der Kuchenboden, der allein wäre wahrscheinlich zu wenig. Deswegen kommt oben noch eine Creme, die das Ganze abrundet. Und dann könnte man auch noch Streusel darüberstreuen, wenn man das möchte. Nur die Frage ist: Braucht es die überhaupt?"

Besonders wichtig sei, sich selbst realistische Ziele zu setzen. Denn oftmals würden Vorgesetzte und Kollegen es nicht einmal bemerken, wenn Fleißarbeiten erledigt würden, und stellten weit weniger hohe Anforderungen als Perfektionisten an sich selbst. Und diese übersehene Mühe frustriere viele Betroffene nur zusätzlich. Außerdem: "Perfekt gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Schwächen und Fehler gehören genauso zu uns wie unsere Stärken", sagt die Psychologin. (Anika Dang, 25.10.2021)