Journalistin Lea Susemichel fordert in ihrem Gastkommentar mehr engagierten, kritischen Journalismus ein.

Nicht nur die Vorwürfe zur Käuflichkeit und Korrumpierbarkeit von Redaktionen, die nach den mutmaßlichen Inseratendeals zwischen Finanzministerium und der Mediengruppe Österreich im Raum stehen, geben derzeit Anlass, über das Verhältnis von Medien und Politik nachzudenken. Der jüngste Skandal wird hoffentlich als Gelegenheit genutzt, um endlich klare Richtlinien für die Inseratenvergabe und "Medienkooperationen" zu implementieren – und am besten gleich auch für eine Neukonzeption der österreichischen Medienförderung, die sich in erster Linie an Qualität orientieren sollte.

Die Inseratenaffäre bringt ganze Berufszweige in Misskredit. Viele verlangen jetzt nach neuen Regeln, etwa für Medienkooperationen.

Die demokratiepolitische Verantwortung von Medien, die freilich mehr umfasst, als sich nicht kaufen zu lassen, verhandelt derzeit auch die Debatte, die im Nachklang der deutschen Bundestagswahl geführt wird. Als Horse-Race-Journalismus wurde dort die Medienberichterstattung rund um die Bundestagswahl zu Recht kritisiert, als politisches Unterhaltungsformat, das über Personalisierung funktioniere und bei dem es wenig um politische Positionen gehe. Die Berichterstattung sei ein "Triumph der Nebensächlichkeiten" ("Zeit") im "Wahlkampf unserer Leben" ("Taz") gewesen, bei dem die Medien grandios versagt hätten. Die Kritik entzündet sich vor allem daran, dass die Klimakrise nicht im Zentrum der politischen Auseinandersetzung stand.

Fast zweihundert Menschen sind bei einer Flutkatastrophe in Deutschland diesen Sommer ums Leben gekommen, weltweit gab es zugleich neue Temperaturrekorde, überall brannten die Wälder. Die neue Regierung in Deutschland wird die letzte sein, die noch rechtzeitig Maßnahmen setzen kann, um den Temperaturanstieg zu bremsen. Die Klimakatastrophe hätte also das zentrale Thema dieses Wahlkampfs sein müssen, war es aber nicht.

Angst vor Aktivismus

Wurde in den Triells nach Klimapolitik gefragt, dann meist bloß danach, wer wem wohl am meisten verbieten will. Journalistinnen und Journalisten scheuen also offenbar selbst im Angesicht der Apokalypse vor Alarmismus zurück. Das dürfte viel mit ihrer Angst zu tun haben, sich des Aktivismus verdächtig zu machen. Denn wer für eine bessere (oder auch nur den Schutz der bestehenden) Welt eintritt, gilt leicht als parteiisch und unseriös, büßt seine journalistische Glaubwürdigkeit ein und betreibt "Zeigefinger"- oder gar "Gesinnungsjournalismus".

Es ist jedoch das dringliche Gebot der Stunde, diese Angst abzulegen. Wir sollten uns nicht fürchten, sondern stattdessen selbstbewusst mehr Haltungsjournalismus fordern oder ihn stolz behaupten. Denn guter Journalismus ist ohne Haltung nicht zu haben – journalistische Professionalität braucht unbedingt moralische Integrität.

Der gewaltige Stresstest, den die traditionellen Medien im sogenannten postfaktischen Zeitalter durch den global erstarkenden Rechtspopulismus, die Klimakrise und nun auch noch die Pandemie erfahren, zeigt, wie dringend nötig ein neues Berufsethos ist. Wenn Medien ihre traditionelle Gatekeeper-Funktion als vierte Gewalt zu verlieren drohen und sich zunehmend von Social-Media-Spins vor sich hertreiben lassen, wenn politische Kommunikation und Inszenierung direkt über Twitter oder Telegram stattfindet und so mediale Kontrolle und Kritik weitgehend aushebelt, ist das demokratiepolitisch brandgefährlich.

Redaktionelle Richtlinien

Ihrer Kontrollfunktion können Medien nur mit journalistischer Integrität gerecht werden, die wiederum Medienkritik und mediale Selbstreflexion erfordert. Diese Reflexion muss zum Beispiel die Frage stellen, ob sich der Nachrichtenwert weiterhin vor allem über den Neuigkeitswert definieren sollte oder ob es nicht vielmehr redaktionelle Richtlinien zur Relevanz wichtiger Zukunftsthemen und politischer Herausforderungen bräuchte, über die Medien unabhängig vom tagespolitischen Geschehen kontinuierlich umfassend berichten müssten.

Das betrifft nicht nur Klimapolitik, sondern auch soziale Gerechtigkeit oder Themen wie Rechtsextremismus oder institutionalisierten Rassismus, die meist schnell verschwinden, kaum sind die Black-Lives-Matter-Demos vorbei. Doch um etwa Femizide und ihre Ursachen zu verstehen und vor allem zu verhindern, reicht eine aufgeregte Anlassberichterstattung nicht aus.

Nicht nur Faktenchecks

Eine solche Medienkritik würde auch erfordern, in und mit der Berichterstattung immer wieder auf die Metaebene zu wechseln und die eigene Funktionsweise zu befragen. Denn um langfristig Medienkompetenz zu schulen, braucht es nicht nur Faktenchecks, sondern auch Fiktionschecks, also Analysen, wie Falschmeldungen konstruiert werden und Verschwörungserzählungen sich verbreiten. Genauso wie gründliche Narrativ- und Diskursanalysen, um auch die komplexe Wirkungsweise von seriöser Berichterstattung bei der politischen Meinungsbildung zu verstehen. Dabei muss immer wieder auch der sogenannte Confirmation-Bias herausgefordert werden, der dazu führt, dass wir allesamt meist bloß zur Kenntnis nehmen, was uns in den Kram und unser Weltbild passt.

Engagierter, kritischer Journalismus muss zudem einen sehr schwierigen Spagat meistern. Er muss das mediale Objektivitäts- und Neutralitätspostulat infrage stellen und Perspektivenvielfalt einfordern, darf sich dabei aber keinesfalls mit rechter Medienschelte gemein machen und ihren "alternativen Fakten" Raum geben. Er muss in soliden Wissenschaftsjournalismus investieren, in kosten- und zeitintensive Recherchen und Plausibilitätsprüfungen, statt einfach Debattenjournalismus mit "false balance" zu betreiben, der Meinungen gleichberechtigt aufeinanderknallen lässt. Denn wer einfach "beide Seiten" zu Wort kommen lässt, auch wenn eine davon eine völlig jenseitige Minderheitenmeinung ist, berichtet nicht ausgewogen, sondern verletzt die journalistische Sorgfaltspflicht oft geradezu.

Tatsächliche Ausgewogenheit statt "false balance" braucht es nicht zuletzt auch zwischen Analyse und beherzten Visionen. Denn guter Journalismus berichtet nicht nur über das, was ist, sondern auch das, was sein könnte. Eine Welt, die wir vor dem Klimakollaps bewahren können, zum Beispiel. (Lea Susemichel, 15.10.2021)