Eine Reizfigur im Exil: Sebastian Kurz nimmt als ÖVP-Klubchef im Parlament Platz. Allein seine Präsenz ist eine Hypothek.
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Sebastian Kurz ist nicht allein. Für viele im Land hätten die letzten Tage Enttäuschung, Wut und Resignation bedeutet, glaubt er zu wissen. Er verstehe das sehr gut, sagt Kurz: "Um ehrlich zu sein: Für mich hat es sich genauso angefühlt."

Per Facebook-Video hat der Regierungschef a. D. am Donnerstagmorgen Anlauf genommen für seinen – wie es in der ÖVP elegant heißt – "Sidestep" ins Parlament. Vor den Abgeordneten war ihm nur der knappe Satz "Ich gelobe" gegönnt, da bot sich eine Ouvertüre an. "Ich bin kein Schattenkanzler", versichert Kurz mit bedrückter Miene seiner Fangemeinde. Als neuer Klubchef wolle er nichts anderes als gedeihliche Arbeit zum Wohle aller.

Doch allein seine schiere Präsenz im Hohen Haus ist eine Hypothek, zu sehr scheiden sich am jugendlichen Altkanzler die Geister. Für die grünen Koalitionspartner ist Kurz die Schlüsselfigur eines korrupten Systems, das aus der Republik gefegt gehört, für die Mandatare der ÖVP hingegen der Erfolgsgarant, dem viele ihren Job verdanken: Beinahe ein Drittel sitzt erst seit den türkisen Wahlsiegen im Parlament. Kann die Gefolgschaft die Demontage ihres Helden jemals verzeihen?

Eindeutig sei die Stimmung im ÖVP-Klub, berichtet Reinhold Lopatka, der als Parlamentarier viele Koalitionskrisen erlebt hat. "Nur eine kleine Gruppe sieht das, was die Grünen getan haben, als Foul", sagt er. "Die ganz große Mehrheit sieht es als schweres Foul."

100 Prozent für Kurz

Dass die Vorwürfe aus den Ermittlungsakten hier wenig Eindruck machen, zeigte Kurz’ Kür im ÖVP-Klub: 100 Prozent Zustimmung sind bei einer geheimen Wahl nicht selbstverständlich. Äußerst einseitig würden die berüchtigten Chats interpretiert, so der Tenor – und wer habe privat noch nie einen rüden Ton angeschlagen? Ihm täten die Formulierungen, die er nie öffentlich verwenden würde, leid, sagt Kurz selbst in seiner Facebook-Botschaft: "Aber ich bin kein Roboter, sondern ein Mensch mit Fehlern und Emotionen."

Auch der neue Mann an der Spitze tanzt da nicht aus der türkisen Reihe. Der Letzte in der ÖVP-Nomenklatura, der Alexander Schallenberg als Kanzler wollte, war vermutlich er selbst, doch die anderen sahen in ihm die bestmögliche Verkörperung des aktuellen Anforderungsprofils: Als gelernter Diplomat sollte der höfliche 52-Jährige die Wogen glätten und neues Vertrauen aufbauen. "Umso überraschender war", sagt einer aus der Partei, "dass er es genau umgekehrt angegangen ist. Er hat gleich sein größtes Asset beschädigt."

Die Etikette sausengelassen

Was Schallenberg mit dem glatten Freispruch für Kurz in seiner Antrittsrede nach der Angelobung beginnt, setzt er beim ersten Auftritt im Parlament fort. Aufgeladen ist die Atmosphäre im baustellenbedingten Ersatzquartier in der Wiener Hofburg nicht nur auf der Zusehergalerie, wo Kamerateams um den besten Platz zum Filmen rangeln.

Neo-Kanzler Schallenberg mit Vizekanzler Kogler: Die Atmosphäre zwischen den beiden ist weniger frostig als zwischen den Abgeordneten von Türkis und Grün.
Foto: Heribert Corn

Galant schreitet der Ex-Außenminister, die Linke flach am Oberkörper angelegt, die Reihen zur Begrüßung ab, doch dann lässt er die Etikette sausen. Einer Schelte für die Opposition wegen diverser Misstrauensanträge folgt eine despektierlich wirkende Geste, für die er sich hinterher entschuldigen wird. Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger legt dem Neo-Kanzler die Ermittlungsakten mit den Chats zum Studium auf das Pult, Schallenberg verfrachtet die Papiere umgehend auf den Fußboden. Wer in diesem Moment seine Miene studiert, lernt: Platzmangel wird nicht der Grund gewesen sein.

"Der Schalli", wie ihn Parteifreunde nennen, habe für seine Unmutsdemonstrationen gar kein vorgefertigtes Skript gebraucht, ist im Regierungsumfeld zu hören. Seit Kurz ihn als einziges Mitglied der Expertenregierung nach dem Ibiza-Skandal übernommen hat, habe sich hundertprozentige Loyalität aufgebaut.

Grüne Genugtuung

Was in den türkisen Reihen für Verbitterung sorgt, treibt einem grünen Abgeordneten draußen vor den Türen des Plenarsaals ein Lächeln ins Gesicht. Es tue schon gut, wenn einmal die ÖVP unter Druck stehe und nicht immer nur die eigene Partei wegen angeblicher Willfährigkeit in der Koalition, sagt ein Mandatar. Diesmal hätten die Grünen Stärke gezeigt: "Als die ÖVP Kurz abgezogen hat, war das für uns der schönste Tag."

Im grünen Klub gibt es da offenbar wenig Widerspruch. Nur einzelne Stimmen, heißt es, hätten den kompletten Bruch mit der ÖVP vorgezogen. Bei der Mehrheit aber herrscht Erleichterung, denn einen überzeugenden Plan B gab es nicht in der Hinterhand. Jeder Versuch, mit Beteiligung der FPÖ eine Mehrheit zu schmieden, hätte in der Partei für Aufruhr gesorgt. "Wir sind froh, dass dieser Kelch an uns vorübergegangen ist", sagt der Abgeordnete. "Aber mit Vergeltung der ÖVP ist natürlich zu rechnen."

Tatsächlich? Zu vernehmen sind auch andere Signale. Bei einer Videokonferenz mit den Landeschefs der ÖVP habe Sebastian Kurz ähnlich verbindliche Töne angeschlagen wie auch via Facebook, ist aus der Schaltzentrale einer Landespartei zu hören: "Alles andere wäre auch idiotisch."

Umstrittene Urheberschaft bei Kurz' Abgang

Die starken ÖVP-regierten Länder sollen die treibende Kraft hinter Kurz’ Rückzug gewesen sein – zumindest laut der eigenen Darstellung. Man wollte die eigene Rolle ja nie hervorheben, sagt ein Landesvertreter, der ungenannt bleiben will. Aber als dann die Erzählung kursierte, wie Kurz seine Entscheidung "zum Wohle des Landes" in einsamer Einkehr, womöglich noch gegen Widerstand aus manchen Ländern, getroffen habe, sei eine Berichtigung angesagt gewesen: "Denn diese Version ist ein Blödsinn."

Manche widersprechen da vehement. Es gehöre zum Wesen der Landesparteien, es am Ende immer selbst gewesen sein zu wollen, sagt einer aus dem Regierungsumfeld, der die Genese ganz anders darstellt. Freitagnacht habe sich Kurz mit Schallenberg, Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger, Innenminister Karl Nehammer sowie seinen Vertrauten Stefan Steiner und Gerald Fleischmann stundenlang beraten – und sich schließlich zum "Schritt auf die Seite" entschlossen.

ÖVP-Mandatar Lopatka (mit Vizeklubchef Wöginger): "Nur eine kleine Gruppe sieht das, was die Grünen getan haben, als Foul. Die ganz große Mehrheit sieht es als schweres Foul."
Foto: APA / Roland Schlager

Doch unabhängig von der Urheberfrage: In der ÖVP gibt es Interessengruppen, die alles andere wollen als eine durch Obstruktion gelähmte Regierung. Die Unternehmer warten auf die versprochenen Steuererleichterungen, die Bauern auf die nationale Umsetzung der neuen EU-Agrarförderperiode. Ernüchternd sind die Erinnerungen an die Zeit der Expertenregierung, als vieles liegenblieb.

Gewaltsames Aneinanderklammern

Dazu kommt: Ein Scheitern der Regierung kann in Neuwahlen münden – und dafür spricht aus ÖVP-Sicht kein rationaler Grund. Die Kanzlerpartei ist nicht nur in den Umfragen abgesackt, ihr fehlt auch der Spitzenkandidat. Schallenbergs erste Auftritte waren nicht unbedingt eine Bewerbung in eigener Sache, Kurz käme erst dann wieder ins Spiel, wenn die rechtlichen Vorwürfe ausgeräumt sind – und damit rechnet auf die Schnelle kaum jemand. "Außerdem fragt es sich, wer nach einer Wahl noch mit uns koalieren will", sagt ein ÖVP-Mann, der deshalb mit einem "gewaltsamen Aneinanderklammern" in der Regierung rechnet.

Eher könnten die Grünen im neuen Jahr Wahlen vom Zaun brechen, wird in der ÖVP vermutet: dann, wenn die ökosoziale Steuerreform und andere wahlkampftaugliche Vorzeigeprojekte unter Dach und Fach sind.

Nach dem unterkühlten Auftakt am ersten Parlamentstag hätten sich die Gemüter bereits etwas beruhigt, berichtet der Abgeordnete Lopatka. Weil niemand Neuwahlen wolle, gebe es zur Zusammenarbeit keine Alternative: "Da dürfen wir nicht wehleidig sein." In der Fußballmeisterschaft komme es auch vor, dass der eine dem anderen übel hineingrätsche, sagt er. "Im Nationalteam spielen dieselben Spieler trotzdem zusammen." (Gerald John, 15.10.2021)