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Es schaut nicht gut aus für den Hoffnungsträger: Joe Biden in der Krise.

Foto: REUTERS/Leah Millis

Es hätte ein Traumstart werden können ins neue Amt. Ausgestattet mit einer Mehrheit sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus, hätte Joe Biden gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft wichtige Pflöcke in den Boden schlagen können. Die Umfragewerte waren wohlwollend. In Washington schien man erleichtert darüber zu sein, dass mit Biden wieder mehr Berechenbarkeit und Stabilität ins Weiße Haus einzog. Doch dann kam alles anders.

Im Sommer geriet der Kurs des 46. US-Präsidenten zum ersten Mal ins Schlingern, als sich die Berichte über die katastrophalen Zustände an der mexikanischen Grenze häuften. Zuletzt sorgten Fotos von berittenen US-Grenzpolizisten für Unmut, die Jagd auf haitianische Flüchtlinge machten. Das wollte so gar nicht zum Saubermann-Image des Präsidenten passen und erinnerte stark an die Bilder von mexikanischen Flüchtlingskindern in Käfigen. Wollte man nicht besser, humaner sein als Trump?

Menetekel Afghanistan

Es folgte der chaotische Truppenabzug aus Afghanistan. Obwohl es Warnungen aus dem Pentagon gab, hielt Biden, der als Präsident auch oberster Befehlshaber über das Militär ist, stur an dem Rückzugsplan fest. Geordnet und sicher, so hatte Biden die Operation angekündigt. Nur Wochen später, als die Situation vor Ort außer Kontrolle geriet, sprach Biden davon, dass eine solche Entwicklung nur schwer vorhersehbar war. Zuletzt der tödliche Drohnenangriff auf zehn unschuldige Zivilisten nahe Kabul, darunter sieben Kinder – ein tragisches Sinnbild für Bidens Krisenpolitik.

Dann der Streit um die U-Boote aus Frankreich. Eine neue strategische Allianz zwischen den USA, Großbritannien und Australien brachte die Franzosen um einen milliardenschweren Rüstungsauftrag. Ausgerechnet Biden, von dem sich Brüssel eine Erneuerung der transatlantischen Beziehungen erhoffte, stößt seine europäischen Bündnispartner derart vor den Kopf. Der Ärger in Paris ist groß, daran konnte auch ein Telefonat mit dem französischen Präsidenten nichts ändern.

Viele-Fronten-Krieg

Auch zu Hause kämpft Biden einen diplomatischen Viele-Fronten-Krieg. Die Demokraten verlieren sich seit geraumer Zeit in Flügelkämpfen, was nicht nur den Staatshaushalt immer wieder gefährdet, sondern auch eine tiefe Wirtschaftskrise nach sich ziehen könnte. Der nicht endenwollende Machtpoker in den eigenen Reihen könnte die Demokraten ihre hauchdünne Mehrheit im Parlament kosten, wenn im November 2022 das Repräsentantenhaus sowie 34 von 100 Sitzen im Senat neu zur Wahl stehen.

Weil der Vorsprung der Demokraten im Kongress denkbar knapp ist, besitzt jeder einzelne Abgeordnete ein außergewöhnlich großes Erpressungspotenzial gegenüber seiner Partei – und damit letztlich auch gegenüber dem Präsidenten. Der hatte angekündigt, das Land durch zwei ambitionierte Reformpakete in die Zukunft zu führen. Ein einziges Nein, auch nur die Enthaltung eines einzelnen Demokraten bei der Abstimmung, könnte beide Reformvorhaben zu Fall bringen.

Zermürbende Flügelkämpfe

Während es beim Infrastrukturplan einen Kompromiss mit den Republikanern gibt, ist aufseiten der Demokraten ein zermürbender Streit über die Ausgestaltung des zweiten Reformvorhabens ausgebrochen. Dieses Gesetzespaket sieht eine deutliche Ausweitung staatlicher Leistungen vor, etwa einen Anspruch auf zwei Jahre kostenlosen Kindergarten, die gebührenfreie Ausbildung an einem Community-College sowie zusätzliche Pflegeleistungen im Alter. Staatsausgaben im Wert von 3,5 Billionen Dollar, die durch höhere Steuereinnahmen gegenfinanziert werden sollen.

Geht dem linken Flügel Bidens Prestigeprojekt noch nicht weit genug, wollen konservative Demokraten die Kosten auf 1,5 Billionen Dollar begrenzen. Gleich mehrere Abgeordnete haben angekündigt, den Reformplänen des Präsidenten die Stimme zu verweigern, sollte es nicht zu signifikanten Kürzungen kommen. Und so wird die Abstimmung von Woche zu Woche verschoben, ein Kompromiss ist nicht in Sicht. Und mit jedem Tag, den die Reformen auf sich warten lassen, schwindet das Vertrauen in den Präsidenten.

Haushaltssperre war zum Greifen nah

Als würde das nicht schon reichen, erhöhen auch die Republikaner jetzt den Druck auf den Präsidenten, indem sie den Demokraten bei wichtigen Entscheidungen die Unterstützung verweigern. So wäre es vor zwei Wochen beinahe zu einer Haushaltssperre gekommen. Für nächste Woche drohte den USA zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Zahlungsunfähigkeit.

Beide Fristen konnten von den Demokraten in letzter Minute bis Dezember verlängert werden. Kommt es bis dahin zu keiner Lösung, wären die Folgen laut Finanzministerin Janet Yellen "katastrophal". Die USA könnten in eine tiefe Wirtschaftskrise stürzen, was die Kreditwürdigkeit der Supermacht über Jahre hinweg belasten würde.

Zustimmungswerte eingebrochen

Biden befindet sich in einer doppelten Zwickmühle – einerseits gegenüber den Republikanern, andererseits gegenüber seiner eigenen Partei. Die Zustimmungswerte des Präsidenten sind im Sommer drastisch eingebrochen und bewegen sich aktuell bei nur mehr 43 Prozent. Weder innen- noch außenpolitisch kann der Präsident derzeit punkten. Einer aktuellen Meinungsumfrage zufolge halten 55 Prozent der Amerikaner Biden mit seinen Aufgaben für überfordert.

Und dann ist da noch das Virus: Mehr als 700.000 Corona-Tote zählten die USA bis Anfang Oktober. Obwohl die Zahl der Neuinfektionen seit dem Sommer zurückgeht, bleibt die Situation in den Intensivstationen vieler Bundesstaaten angespannt. Ein Grund dafür ist, dass sich viele Amerikaner nach wie vor nicht impfen lassen wollen. Die Impfquote der Bevölkerung ist bei Mitte 50 Prozent quasi stecken geblieben. In kaum einer anderen Industrienation ist die Zahl der Impfskeptiker so groß.

Für die bevorstehenden Wintermonate rechnet die US-Gesundheitsbehörde FDA mit einem deutlichen Anstieg der Infektionszahlen. Ein weiterer Dämpfer für den Präsidenten, der die Corona-Bekämpfung zum obersten Ziel seiner Präsidentschaft erklärt hatte. (Richard Gutjahr aus Washington, 15.10.2021)