Die neue Arbeitswelt konfrontiert Beschäftigte mit hohen Anforderungen.

Foto: Getty Images/iStockphoto

Oft werde ich gefragt: "Macht Arbeit krank?" In den Medien finden sich immer wieder beunruhigende Berichte über eine Zunahme von psychischen Störungen, die zu Arbeitsunfähigkeit, also Krankenstand oder Frühpensionierung, führen. Doch auch wenn sich die Aufmerksamkeit auf die durch psychische Störungen bedingte Arbeitsunfähigkeit richtet, darf daraus nicht geschlossen werden, dass Erwerbsarbeit "krank macht".

Die Ausübung eines Berufs sichert nicht nur die materielle Lebensgrundlage, sondern auch die soziale Identität: Arbeit gibt Struktur und Halt, im besten Fall kann sie sogar als sinnstiftend erlebt werden. Daher erstaunt es wenig, dass Arbeitslosigkeit in einem viel höheren Ausmaß mit psychischen Störungen korreliert als Erwerbstätigkeit. Während jedes Jahr bei fünf Prozent der Berufstätigen eine Depression diagnostiziert wird, ist der Anteil bei den Arbeitslosen circa viermal so hoch.

Hohe Anforderungen

Und auch im hohen Lebensalter kommt es zu einem deutlichen Anstieg der Depressionsdiagnosen: Im 85. Lebensjahr werden 25 Prozent der Frauen und 15 Prozent der Männer als depressiv diagnostiziert. Ohne die Belastungen der modernen Arbeitswelt leugnen zu wollen, spricht viel dafür, Arbeit und besonders Erwerbsarbeit vor allem als Beitrag zur psychischen Gesundheit zu interpretieren.

Auch dass heute über 40 Prozent aller Erwerbsminderungsrenten aufgrund psychischer Störungen in Anspruch genommen werden, ist kein Beweis für die krankmachende Wirkung der Arbeitswelt. Eher ist anzunehmen, dass die moderne Informations- und Dienstleistungsgesellschaft durch die Notwendigkeit von lebenslangem Lernen und die Häufigkeit von Umstrukturierungen höhere Anforderungen an die Flexibilität und psychische Funktionsfähigkeit der Beschäftigten stellt.

Anpassung ist gefragt

Während früher ein durchschnittlicher Arbeitnehmer gute Chancen hatte, seinen erlernten Beruf jahrzehntelang weitgehend unverändert ausüben und dabei entlastende Routinen entwickeln zu können, ist heute in den meisten Jobs eine hohe Anpassungs- und Lernfähigkeit gefordert.

Immer öfter fühlen sich weniger qualifizierte Berufstätige vor allem in der zweiten Lebenshälfte überfordert, wenn sie sich auf neue Software einstellen oder immer kompliziertere Maschinen bedienen müssen. In der modernen Arbeitswelt gibt es auch immer weniger Nischen für Menschen, die nur einfache administrative, handwerkliche oder gleichförmige körperliche Tätigkeiten durchführen können.

Die moderne Arbeitswelt stellt auch deutlich höhere Anforderungen an die Lern- und Anpassungsfähigkeit der Erwerbstätigen. Damit ist sie weniger tolerant gegenüber Lernschwierigkeiten und psychischen Beeinträchtigungen, die daher viel häufiger als früher zu Arbeitsunfähigkeit und Frühpensionierung führen. (Elisabeth Wagner, 19.10.2021)