Kaum ein Aspekt des alltäglichen Lebens bleibt von der Digitalisierung unberührt. Bei digitaler Nachhaltigkeit sei mehr Fantasie notwendig, sagt Fred Luks.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Ganz ehrlich: "Mehr Fantasie, weniger Moralisierung" – das könnte über fast jedem Text zur Nachhaltigkeit stehen. Denn der Diskurs über dieses Leitbild leidet an Moralinüberschuss und Fantasieknappheit. Wer sich auf Events zur Nachhaltigkeit umhört oder Texte zum Thema liest, wird sich dieser Einsicht kaum verschließen können. Moral ist natürlich an sich nichts Schlechtes, aber die Moralisierung einer Debatte, die doch von gedanklicher Offenheit und Vorwärtsdenken geprägt sein sollte, ist höchst unproduktiv.

Das Buch des Postwachstumsökonomen Niko Paech mit dem programmatischen Titel All you need is less (mit Manfred Folkers) darf man als prominentes Beispiel für diese Problematik zitieren. Aus der ökologischen Begrenztheit der Erde wird dort rigoros die Pflicht zur individuellen Selbstbeschränkung abgeleitet – und zwar in einer höchst moralisierenden Weise: "Exzesse an ökologisch rücksichtslosen Handlungsroutinen" werden ebenso gegeißelt wie "Ausschweifungen" und "Enthemmung". Was Nachhaltigkeit hier bedeutet, liegt offen zutage: Beschränkung, Begrenzung, Bescheidenheit – das soll der Weg sein zum nachhaltigen Postwachstum.

Vernachlässigte Dimension

Ein anderer Vertreter dieser Denkrichtung, Tim Jackson, hat gerade sein neues Buch vorgelegt: Wie wollen wir leben? Sehr gute Frage – schade nur, dass "digital" auf 300 Seiten nur zwei Mal vorkommt. Das ist höchst bemerkenswert, zumal Jackson eine umfassende Kapitalismuskritik vorlegt und das Ziel verfolgt, umfassende Alternativen zum herrschenden Wirtschaften zu liefern. Wie man das aktuelle Wirtschaftsmodell umgestalten will, ohne sich mit Digitalisierung zu beschäftigen, erscheint rätselhaft.

Durchaus ähnlich verhält es sich mit dem aktuellen Schlüsseltext der Nachhaltigkeitsdebatte, der 2015 von der UN-Generalversammlung beschlossenen Resolution "Transformation unserer Welt. Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung", in der die berühmten 17 Nachhaltigkeitsziele formuliert werden. Auch hier bleibt mit Themen von Armutsbekämpfung über Geschlechtergerechtigkeit, Infrastruktur und Klimaschutz bis hin zu Kooperationsfragen eigentlich kein gesellschaftliches Thema unberührt – und "digital" kommt in diesem Dokument genau einmal vor.

Fehlender Austausch

Nun, Wörterzählen ist vielleicht ein etwas krudes Instrument, um die weitverbreitete Digitalisierungsignoranz der Nachhaltigkeitscommunity zu zeigen – aber diese Beobachtung wird durch zahlreiche andere Beispiele belegt, in denen Moralisierung und Verzichtsappelle wichtiger sind als Neugierde und Experimentierfreude. Unter der Überschrift "Nachhaltigkeit" soll zwar die Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft organisiert werden – aber diese Bestrebungen haben nach wie vor sehr oft einen großen blinden Fleck.

Und der heißt eben: Digitalisierung. Hier wird eine Transformation nicht nur angestrebt – sie ist in vollem Gange, und das mit wachsender Geschwindigkeit. Das ist so banal wie wahr: Kaum ein Aspekt des täglichen Lebens bleibt von digitalen Technologien unberührt. Dasselbe gilt für Geschäftsmodelle, Produktionsprozesse, Marketing, den Finanzsektor und – in der Regel maßlos unterschätzt, wenn es um Digitalisierung geht – die Landwirtschaft. Transformationsbemühungen in Richtung Nachhaltigkeit, die diese Umwälzung nicht angemessen berücksichtigen, werden scheitern.

Leider wird diese Lage noch dadurch verschärft, dass es auch in umgekehrter Richtung eine gehörige Portion an Nichtwissen und Unverständnis gibt. Zugespitzt: Menschen, die an der digitalen Transformation arbeiten, reden zu wenig mit Leuten, die für die Nachhaltigkeitstransformation streiten.

Diskursbremse

Auch hier liegt ein ernstes Problem: Denn eine Digitalisierung sollte nicht nur an Umsatz- und Klickzahlen, sondern auch an ihrem Beitrag zum Klimaschutz und zum gesellschaftlichen Fortschritt gemessen werden. Da diese Notwendigkeit immer offensichtlicher wird, ist es Zeit, Digitalisierung und Nachhaltigkeit endlich auch zusammenzubringen.

Und da kommt die Moralisierung als Diskursbremse ins Spiel: Denn wer moralisiert, will recht haben – aber nicht diskutieren. Wir brauchen aber genau das: Diskussion, Streit, das Ringen um gute Lösungen – und Fantasie. Denn heute weiß niemand, wie eine digitale Nachhaltigkeit und eine nachhaltige Digitalisierung aussehen können. Deshalb sprechen viele von der Nachhaltigkeit als Such- und Lernprozess. Und für dieses Suchen und Lernen braucht man Offenheit und nicht die falsche Gewissheit, im Recht zu sein und genau zu wissen, wie Zukunftsfähigkeit erreicht werden kann.

Wandel kommt

Mehr Fantasie und weniger Moralisierung sind auch deshalb gefragt, weil die Nachhaltigkeit oft daran krankt, als reine Problemlösungs- und Katastrophenvermeidungsstrategie wahrgenommen zu werden. Es ist weitaus produktiver – und auch sachgerechter –, nachhaltige Entwicklung als Suche nach einem guten Leben für alle zu sehen. Es geht um eine – vermutlich wesentlich von der Digitalisierung geprägte – Gesellschaft, die Klimaneutralität mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und hoher Lebensqualität verbindet. Das ist für eine "große Transformation" sicher motivierender als die Aussicht, womöglich gerade noch das Schlimmste zu verhindern.

Wandel kommt mit Sicherheit. Er kann erlitten oder gestaltet werden. Das lässt sich am Klimawandel veranschaulichen: Eine Welt mit drei Grad höherer Durchschnittstemperatur wäre eine andere Welt – sicher eine schlechtere. Eine klimaneutrale Welt wäre aber auch eine andere – womöglich viel bessere. Die Differenz zwischen "management by desaster" und "management by design" passt auch zur Digitalisierung. Man kann sie geschehen und Klimaschäden und Monopolmacht weiter anwachsen lassen. Oder man sucht nach Wegen, die Digitalisierung klima- und demokratietauglich zu machen. Nachhaltig. (Fred Luks, 25.10.2021)