Elfriede Jelinek wird am 20. Oktober 75 Jahre alt.

Foto: Ullstein-Bild

Mit dem Lesen von Elfriede Jelinek kann man jederzeit und sofort anfangen. Man muss nicht in die Buchhandlung, nicht in die Bibliothek, man muss auf kein Packerl warten, in dem eines ihrer Bücher steckt. Man braucht nur Internet. Elfriede Jelinek hat eine Homepage, und mit der allein hat man schon einmal gut zu tun hat für viele Stunden.

Ob zu ihrem 75. Geburtstag am 20. Oktober viele Menschen mit dem Lesen von Elfriede Jelinek anfangen, ist wohl eher zu bezweifeln. Einen Ansporn ist ihr Werk aber jederzeit wert. Sie ist die wichtigste österreichische Schriftstellerin der Gegenwart, und das nicht nur (oder erst) seit dem Nobelpreis, den sie 2004 zugesprochen kam. Sie wäre wohl auch selbst die Erste, die diese literaturbetrieblichen Phrasen ins Leere laufen ließe, andererseits zeugen ihre Texte von großem Selbstbewusstsein. Sie muten sich etwas zu, sie drehen die alte Leier der Literatur bis an die Grenze des Sagbaren.

Für das Österreich des "Wir sind wir" wurde sie damit zu einer Antithese. 1995 ließ die FPÖ anlässlich einer Gemeinderatswahl in Wien eine Geige plakatieren, die für Kunst und Kultur stehen (oder hängen) sollte. Das Gegenteil zur Geige war eine Liste von Namen: Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann, Pasterk. Elfriede Jelinek war auf dieser Liste die einzige Schriftstellerin, und gemeint war sie auch eher als Intellektuelle, als "öffentliche Person", die sie bei aller Zurückgezogenheit immer noch leidenschaftlich ist.

"Als öffentliche Person ist das Leben hier in Österreich nicht auszuhalten", schrieb sie damals. Die Geige stand bei der FPÖ vielleicht für Beethoven oder Mozart, vielleicht auch für Schrammeln. Wenn Jelinek jemals ein Drehbuch über Beethoven geschrieben hätte, hatte sie immerhin schon einen Titel dafür parat: "Der Grantscherm aus Heiligenstadt". Der findet sich in ihrem Stück Burgtheater, mit dem sie 1985 einen wichtigen Mythos des "Wir sind wir" durch Übertreibungskunst angriff: die erste Dynastie des österreichischen Schauspiels während und nach dem Nationalsozialismus.

Spätestens seit damals sind Österreich und Elfriede Jelinek geschiedene Leute, deren Beziehung aber weitergeht, weil man aus dem, was man (nicht) ist, nicht ausziehen kann. Ihre genauere Herkunft hat sie in einer kleinen Notiz auf ihrer Seite einmal ausdrücklich festgestellt: Sie ist Wienerin, auch wenn in ihrem Pass als Geburtsort Mürzzuschlag steht. Dass sie immer wieder zu einer Steirerin gemacht wurde, hat vielleicht mit diesem "Verlangen vom Hoamatl" zu tun, mit dem Künstler sich nicht nur in Österreich konfrontiert sehen: Sie sollen für etwas stehen, worauf man sich gemeinschaftlich einigen kann. In Österreich wäre das zuerst einmal die Musik, deswegen die Geige bei der FPÖ. Wenn alle Selbstbilder der Nation zerbrochen sind, kann sie immer noch zum Heurigen gehen.

Wo man steht

Für Elfriede Jelinek, den Grantscherm aus Hütteldorf, ist Musik etwas anderes, dazu könnte man ihren Text Die Zeit flieht über ihren Orgellehrer Leopold Marksteiner lesen. Was sie da über das Instrument, über die zu erlernende Kunst und über ihre ersten Begegnungen mit der Kunst in einem weiteren Sinn schreibt, passt auch auf ihr Schreiben und ihr Sein in der Zeit in einem allgemeineren Sinn: "Man geht also auf etwas herum, auf einem Grund, vor dem man flüchten möchte, was eben unmöglich ist." Den "gesuchten Ort" findet man nicht, denn "man steht ja drauf".

Allen Politikern, die diese individuelle Suche abkürzen wollen, indem sie laut Österreich schreien (oder Amerika, oder Serbien, oder Türkei!), allen Terroristen, die mit Gewalt den einen Punkt zu identifizieren meinen, an dem sie das "Bodenlose" aufhängen können, hält Elfriede Jelinek ihre Bemühungen um die Orgel und später ihre Sprache entgegen: "Musik macht einen fremd."

Für einen Dokumentarfilm über die Ramsau am Dachstein, den sie 1976 für den ORF machte, traf Jelinek einen alten Zimmermann, der ihr erzählte, dass er in seiner Jugend nach Salzburg fuhr, um dort Klarinette zu lernen. Als man ihm klarmachte, was für einen Aufwand, finanziell und zeitlich, so ein Studium erforderte, fuhr er wieder heim und beschied sich mit dem Tischlerhandwerk. Das war viele Jahre, bevor Elfriede Jelinek aus einer schwierigen Jugend in eine damals schon deutlich offenere Kulturszene aufbrach, in dem sie ihre "Endstation" fand: die Sprache. Über die Ramsau hört man sie in der Fernsehreportage wie einen Refrain immer wieder sagen: "Das ist eine schöne Landschaft." Der Landschaft, die auch bei ihr in einem Sinn schön ist, den man dem Heimatfilm nicht leicht abspenstig machen kann, will sie zumindest "die Unschuld der falschen Schwärmerei für das Bäuerliche" nehmen.

In einem ihrer Hauptwerke, in dem Roman Die Kinder der Toten, wandte sie dann die ganze populäre Kultur der Jahre nach 1945, vor allem aber die Zombie-Mythologie gegen jede falsche Schwärmerei für das Steirische ein. Und gegen das Untote österreichischer Geschichtslügen von einer unschuldigen Zweiten Republik, die als Nestbeschmutzer alle beschimpft, denen das Verdrängte zu schaffen macht. Das Landschaftliche beschäftigt sie durchgehend. In ihrem Roman Lust (1989) klettert der Fabrikdirektor "in seinen Hausbergen" herum, die Rede ist von einer Vergewaltigung in der Ehe, ein Vergehen an seinem "Haustier". Männer erleben viele Verluste, aber "von den Frauen können wir’s uns in winziger Münze" zurückholen.

Der Satz enthält zwei Aspekte ihres Schreibens in schöner Verdichtung: Jelinek ist selbstverständlich Feministin, und das bedeutet bei ihr eben, dass sie auch den Frauenbewegungen gegenüber kritisch bleibt, wo sie es für richtig hält, zum Beispiel, wenn es zu stark in Richtung Körpertherapie ohne einen Begriff von den Strukturen geht, die auf die Körper einwirken. Und sie interessiert sich für die Wege des Geldes als eines der größten Geheimnisse in der modernen Wirtschaft.

Wege des Geldes

Das Geld ist das Bodenlose, auf dem alles beruht. Dem Geld, das scheu ist wie ein "flüchtiges Tier", dient die große "Menschenvergeudung". Nicht nur in ReinGold, ihrem Bühnenessay über Wagners Ring des Nibelungen, kreist ihr Schreiben immer wieder um Zusammenhänge von Liebe und Gegenwert. "Das Geld ist Braut. Nicht die Braut ist reich, das Geld ist reich, es macht nicht reich, es ist selbst reich, es genügt sich selbst, auch wenn es jede Menge Abnehmer gibt, damit es nicht abnimmt. Damit ihm jemand seine Last abnimmt." So steht es in Winterreise, ihrem Stück, mit dem sie 2011 die Stimme aus dem Liederzyklus von Franz Schubert überschrieb. Die Passage ist en miniature eine der Textflächen, mit denen Jelinek ihre Bücher und Stücke, auch ihre intellektuellen Interventionen füllt. Auch wenn ihr dieser Begriff längst lästig geworden ist, wie sie einmal fallen ließ, schreibt sie doch so weiter, in einem Strom, der fast alles in sich aufzunehmen vermag, von Abu Ghraib und Donald Trump, von Waldheim bis Ibiza.

Ein Prinzip ihres Schreibens hat sie 1994 so formuliert: "Es ist unsere Aufgabe, für diejenigen zu sprechen, für die kein anderer spricht." Das mag in erster Linie auf ihr Engagement als streitbare Intellektuelle gemünzt gewesen sein, aber es passt auch auf die Romane und Stücke. Während Schauspieler ihre Lust darin finden, dass sie immer wieder "in naiche Menschenkinder einischliaffen", wie sie in Burgtheater den Schorsch sagen lässt, kennen ihre Texte im Grunde kaum eine Rollenverteilung. Ihre monologische Tendenz kommt aus einer Erfahrung mit Sprache, die der mit dem Geld entspricht, ihr aber auch gegenübersteht.

Die Sprache ist eine Braut, die auch "selbst reich" ist, für die aber niemand vergeudet werden muss, denn sie erweist sich als tatsächlich unerschöpflich. Allen Verfechtern einer realen Gegenwart, die wie ein Goldstandard das Aussagen der Worte decken müsste, stellt Elfriede Jelinek sich als Finanzministerin einer modernen Ökonomie der Worte gegenüber: Sie stellt gegen den Einsinn des "Wir sind wir" einen unendlichen Sinn, der aus dem Schmäh, aus der Assoziation, aus dem Arbeiten der Begriffe im Un-, Vor- und Überbewussten seine Energie gewinnt.

Größtmögliche Durchlässigkeit

Durch das ständige Lesen, auch von vermeintlich trivialer Literatur, hat sie sich eine geistige Vorratskammer zugelegt, in der sie die Texte "eingerext" hat, die sie dann in die Textflächen gießt. Heidegger zum Beispiel oder René Girard. Man könnte fast sagen, dass Jelinek in und mit der Literatur eine vergleichbare Rolle einnimmt wie Mario Draghi damals mit seinem berühmten "whatever it takes": was immer die Welt an Herausforderungen hervorbringt, Elfriede Jelinek wird darauf eine Antwort haben. Sie schöpft aus dem Vollen. In einem Vorwort zu einer mexikanischen Ausgabe essayistischer Texte von ihr schrieb sie 2014, diese Versuche wären "eine Vermeidung des Eigenen, das dadurch aber immer stärker durch das Sprachgewebe, das ich fabriziere, hindurchschimmert, aber ich selbst habe leider keinen Schimmer davon". Das ist auch eine Weise, für diejenigen zu sprechen, für die kein anderer spricht. Nämlich so von sich selbst zu sprechen, dass man, in größtmöglicher Durchlässigkeit, nicht in narzisstischer Blähung zu einem Weltgeist wird. Elfriede Jelinek ist ein Weltgeist aus Österreich. Wer das als Widerspruch sehen möchte, könnte diesen mit ihren Texten produktiv machen. (Bert Rebhandl, ALBUM, 18.10.2021)