Wenn eine Stadt eine Seele hat, dann ist ihr Wiener Amtssitz das Kaffeehaus. Dabei fallen die Rezensionen für diesen Ort nicht unbedingt schmeichelhaft aus: Das Wiener Kaffeehaus sei "ein rechtes Asyl für Menschen, die die Zeit totschlagen müssen, um nicht von ihr totgeschlagen zu werden", ätzte der Wiener Poet Alfred Polgar, der zum Inventar des Café Central gehörte.

Andere diagnostizierten den notorischen Kaffeehausbesuch der Wiener Bevölkerung als unheilbare Krankheit: "Ich habe das Wiener Kaffeehaus immer gehasst, weil alles gegen mich gewesen ist, und bin immer wieder in das von mir gehasste Wiener Kaffeehaus hineingegangen", klagt Thomas Bernhard in Wittgensteins Neffe über seine Leiden im Café Bräunerhof. "Habe es täglich aufgesucht, denn ich habe an der Kaffeehausaufsuchkrankheit gelitten, denn es hat sich herausgestellt, dass diese Kaffeehausaufsuchkrankheit die unheilbarste aller meiner Krankheiten ist." Vielleicht ist das auch der Grund, warum Sigmund Freud im Central Literaten wie Franz Kafka, Stefan Zweig oder Hugo von Hofmannsthal für seine Couch rekrutieren konnte.

Allein in Gesellschaft

"Gemma auf an Kaffee." Synonym für Freundschaft, Geschäft, Politik, Tratsch, Intrige, Müßiggang. Man geht ins Kaffeehaus, um gesehen zu werden, "täglich saßen wir stundenlang, und nichts entging uns", schreibt Stefan Zweig. Und Polgar: "Im Kaffeehaus sitzen die Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen." Das Kaffeehaus ist Sehen und Gesehenwerden, Darstellung und Selbstdarstellung, Kommentieren und Ausrichten, lange vor Social Media. Und dann passierte plötzlich, an einem sonnigen Märztag des Vorjahres, die größte, unvorhersehbare Katastrophe, die dem Wiener Kaffeehaus passieren konnte: Lockdown. Mit wenigen Tagen Vorwarnung wurde den Wienerinnen und Wienern der Zugang zu ihrer Bühne und ihrem Wohnzimmer verwehrt.

"Der erste Lockdown war ein massiver Einschnitt", erinnert sich Nikolaus Weidinger, der in dritter Generation mit seiner Schwester Anna Karnitscher das gleichnamige Vorstadtcafé am Lerchenfelder Gürtel führt. "Als die letzten Gäste rausgegangen sind, hat meine Mutter geplärrt, und auch meine Schwester hat nicht gewusst, was sie jetzt machen soll."

Umgedrehte Stühle, ineinandergeschobene Tische, leere Zeitungshalter: Die Wiener Kaffeehäuser, hier das Jelinek, boten im Lockdown einen trostlosen Anblick.

Foto: Marlena König

Alles hatte das Café Weidinger, wie die meisten anderen Wiener Kaffeehäuser, bisher überlebt: den Ersten Weltkrieg und den Zusammenbruch der Monarchie, das Elend der Nachkriegszeit, die Weltwirtschaftskrise, Bürgerkrieg und Austrofaschismus, den Nazi-Terror, den Zweiten Weltkrieg und die Besatzungszeit. Nur eine Gewissheit hatten die Menschen, die auch in schlechten Zeiten im Kaffeehaus ein Zuhause fanden: dass sich am nächsten Morgen die Türen wieder öffnen würden und der Kellner im Smoking den Kaffee an ihren gewohnten Tisch bringen würde. Jetzt, im Lockdown, hatte die Pandemie den Besuchern diese einzige Gewissheit geraubt.

Wohnen im Kaffeehaus

Im Pullover und mit Schal sitzt Nikolaus Weidinger auf einer blau gepolsterten Sitzbank in einer der Fensterlogen im leeren Café und erzählt von der Geschichte dieses Ortes, die seine Geschichte ist. Hier wuchs er, Jahrgang 1968, mit seiner um zwei Jahre jüngeren Schwester auf, "das Kind von Kaffeesiedern". "Wir sind gewohnt, dass wir im Kaffeehaus leben. Der Vater wollte nie, dass Freunde in die Wohnung kommen, immer nur ins Kaffeehaus. Wenn man jetzt hier ganz allein ist, ist das sehr ungewohnt", sagt er. "Die Geräusche im Lokal, man weiß, wie was klingen soll, so wie der Lüfter vom Kühlaggregat. Wenn der nicht anspringt, wird man schon unruhig." Der Großvater, ein Fleischhauer aus Bruck an der Leitha, hatte das Lokal 1928 erworben. Damals galten Kaffeehäuser als sichere Wertanlage, "die wurden auch von Branchenfremden gern für ihr Ausgedinge gekauft", erzählt Weidinger. "Das hat sich schon sehr geändert." Heute sei der Betrieb eines Kaffeehauses ein Balanceakt, der schwierigste Einschnitt war zuletzt das "patschert eingeführte" Rauchverbot 2019. "Wir dachten, wenn wir über diese Klippe springen, ist es geschafft. Und genau in dem Monat, in dem die Umsätze wieder raufgegangen sind, kam der erste Lockdown."

"Als die letzten Gäste rausgegangen sind, hat meine Mutter geplärrt." Nikolaus Weidinger vom Café Weidinger erinnert sich an den ersten Lockdown

Obwohl die Gäste fehlen, herrscht im Café Prückel Betriebsamkeit an einem Tag im März 2021. Seit einem Jahr ist das Café geschlossen geblieben, mit einer kurzen Unterbrechung im Sommer 2020. Speisen und Getränke zum Mitnehmen erinnern mehr an eine Ausspeisung als an das verlängerte Wohnzimmer der Stammgäste. Der Boden ist mit schützendem Industriefilz bedeckt, Sessel stapeln sich, die charakteristischen Lampenschirme der 1950er-Jahre-Einrichtung von Oswald Haerdtl sind mit den Tischen zusammengeschoben.

An einem Ende des Lokals heult eine Schleifmaschine, die den grauen Estrich aufpoliert. Vor dem Café verhandelt gerade Prückel-Chefin Christl Sedlar mit Vertretern einer Limonadenfirma über einen Zuschuss zur Erneuerung der Markise, mit 23 Meter Länge und sechs Meter Breite "Wiens größte Markise", wie Frau Sedlar später erklären wird.

Prückel-Chefin Christl Sedlar: "Die Leute riefen dauernd an und fragten: Chefin, wann geht es weiter? Sie wollen arbeiten."
Foto: Marlena König

Sedlar, eine elegante, grauhaarige Erscheinung, ist die Grande Dame der Wiener Kaffeesiederinnen: Keine ist so lange im Geschäft wie sie. 1960 hat Sedlar als 20-Jährige die Leitung übernommen, und "so Gott will, darf ich auch noch ein paar Jährchen weitertun". Das vom Radrennfahrer Maxime Lurion gegründete Café ist seit 1914 in der Familie, die Großmutter führte es bis 1939, der Vater bis zu seinem unerwarteten Tod 1960. "Der Vater hat es mir freigestellt, ich lernte Schneiderei und machte die Gesellenprüfung, dann wollte ich in eine Hotelfachschule." Aber es kam dann doch anders.

61 Jahre Kaffeehausgeschichte brachten manche Krise, so auch das "Wiener Kaffeehaussterben" der 1970er-Jahre. Aber "Corona ist die größte und schwierigste Prüfung dieser langen Zeit", sagt Frau Sedlar. "Es hat so viele Faktoren, für die Menschen, die hier arbeiten, und für die Gäste. Die Gäste werden entwöhnt. Es wird lange Zeit dauern, bis es wieder den Automatismus gibt: ,Gemma ins Kaffeehaus.‘" Schon nach dem ersten, kürzeren Lockdown brauchte es Zeit, bis die Gäste wieder kamen. "Jetzt wird der Einschnitt noch größer sein."

Wenn das Trinkgeld fehlt

28 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in Kurzarbeit, erzählt Sedlar, und "die Menschen rufen laufend an und fragen: ,Chefin, wann geht es weiter?‘ Sie wollen arbeiten, es fehlt ihnen das Trinkgeld. Und die Langeweile wirkt sich auf die Psyche aus. Sie werden der Arbeit entwöhnt, kommen aus ihrem Rhythmus raus."

Wenn nicht gerade die Schleifmaschine heult, herrscht ungewohnte Stille in den riesigen Räumlichkeiten. So wie in den 1960er-Jahren: "Früher war es hier ruhig wie in einer Kirche. Das Publikum bestand durchwegs aus älteren Leuten, die Jungen hatten kein Geld. Die Ruhe und der Respekt vor dem Kellner und des Kellners vor dem Gast, das war wesentlich. Hinter den Kulissen – das war was anderes, weil irgendwo musste er seinen Frust auslassen, wenn der Gast genervt hat."

Die Atmosphäre sei heute ganz anders, das Publikum hat sich verjüngt, "junge Leute sind draufgekommen, dass das Café eine schöne Bleibe ist, dass man hier was besprechen kann. Der Lärmpegel ist größer geworden, die Jungen reden viel lauter. Es haben sich auch die Gewohnheiten verändert, ich sag’, die Manieren, das ist der Zug der Zeit. Der rote Faden zwischen damals und heute ist, dass wir auch das ältere Publikum noch haben, diese Mischung ist schön.

Überzogene Reaktion

"Geänderte Manieren" brachten ihr vor sieben Jahren auch einen Shitstorm und eine Demo ein, als sie ein küssendes lesbisches Paar aus dem Kaffeehaus verwies. Sedlar entschuldigte sich später dafür und räumte ein, dass ihre Reaktion überzogen war.

Von der seelischen Belastung der Schließzeit weiß auch Wolfgang Binder zu berichten, der Betreiber des Café Frauenhuber. "Nicht wenige meiner Kollegen sind sehr deprimiert und von der Krise schwer betroffen", erzählt Binder von Telefonaten, die viele mit ihm, dem Obmann der Wiener Kaffeehäuser, führen.

1968 übernahm seine Familie von der Familie Frauenhuber das älteste Kaffeehaus Wiens in der Himmelpfortgasse. Mozart und Beethoven haben bereits in dem hier einquartierten Gasthaus musiziert. "Es war der Lieblingsbetrieb meines Vaters, der sagte: Kaffeehaus wird’s immer geben. Ich bin im Kaffeehaus groß geworden" – und war vor dem alles bestimmenden Leben eines Gastronomen gewarnt: "Ich habe zuerst einen technischen Beruf ergriffen, bin erst vor 20 Jahren wieder in die Gastronomie eingestiegen", sagt Binder.

Wiederauferstehung

Nach einem Jahr Stillstand und ungewisser Zukunft ist die Sicherheit vom "ewigen Leben" der Kaffeehäuser geschwunden. Wird sich die Bedeutung des Kaffeehauses durch diese Zäsur ändern? "Ich merke in meinem Freundeskreis, dass den Menschen die sozialen Kontakte fehlen. Es würde jeder lieber früher als später wieder hier sein. Deswegen bin ich guter Hoffnung, dass sich auch die Kaffeehäuser wieder etablieren können. In Wien gibt es Kaffeehäuser seit über 300 Jahren, wir wurden schon so oft für tot erklärt und sind immer wiederauferstanden", sagt Binder. Vor allem alteingesessene Familienbetriebe hätten Bestand, "die können auf Veränderung schneller reagieren und schrumpfen, dann macht es die Familie selbst. Und wenn wir wieder wachsen, können wir wieder in die Breite gehen."

Im Mai 2021, nach mehr als einem Jahr pandemiebedingter Quarantäne, durften die Kaffeehäuser schließlich wieder aufsperren. Zwar sind die Lokale zu manchen Tageszeiten jetzt wieder voll, im Sommer waren die Schanigärten oft ausgebucht. Aber der regelmäßige Besucherstrom, den es früher gab, vermissen die Kaffeehaus-Betreiber. Den Strom von früher gibt es nicht mehr. Er fließt nur zögerlich. An einem Abend im Frühherbst 2021 im Café Hawelka etwa waren gerade einmal drei, vier Tische besetzt – vor der Pandemie wäre das undenkbar gewesen. In der Innenstadt fehlen noch immer die Touristen, "das Schlagobers auf dem Kaffee", wie dies Prückel-Chefin Christl Sedlar nennt.

Kaffeesieder Weidinger: "Wir dachten, wenn wir über diese Klippe springen, ist es geschafft."

Foto: Marlena König

Nikolaus Weidinger hat noch während des Lockdowns seine größte Sorge so ausgedrückt: "Die Kinobetreiber fragen sich: Wird es nachher noch ein cineastisches Erlebnis geben, so wie wir es gewohnt waren? Und wir fragen uns halt, ganz ähnlich: Wird es überhaupt noch eine Kaffeehauskultur geben?"

Das Kino probiert die Wiederbelebung der Cineastik mit Blockbuster-Material, wie etwa dem eineinhalb Jahre lang verschobenen James-Bond-Film.

Das Café Weidinger muss sein über die Stadt verstreutes Publikum erst wieder mühsam zusammensuchen. Nikolaus Weidinger kennt den Trick. Theoretisch. "Wenn ein Trendsetter auf Social Media sagt, ich bin im Weidinger, dann kommen in den nächsten drei Tagen Leute her." Ob es funktioniert, bleibt abzuwarten.

Aber vielleicht hat Thomas Bernhard ja doch recht gehabt, und die Kaffeehausaufsuchkrankheit ist unheilbar. Selbst nach einem Jahr Quarantäne für den Amtssitz der Wiener Seele. (Helmut Spudich, Marlena König, 16.10.2021)